Summer Sisters
Dia es gemerkt hatte. Manchmal war es ganz gut, eine Weile nicht da zu sein, damit man wieder richtig wahrgenommen wurde.
»Na, ich weiß nicht.« Ihre Mutter sah sie besorgt an. »Noch mehr solltest du aber nicht abnehmen. Du siehst nicht besonders gesund aus.«
Polly nickte, obwohl sie insgeheim ganz andere Pläne hatte. Sie freute sich aber, dass ihre Mutter endlich mal was gemerkt hatte. Außerdem machte es sie ein bisschen stolz, dass sie es schaffte abzunehmen, während ihre Mutter seit Jahren erfolglos mit ihrem Gewicht kämpfte. Es war so selten, dass man etwas
besser konnte als eine Erwachsene, deshalb wollte Polly diesen Triumph noch ein bisschen auskosten.
Während sie über den Parkplatz zum Auto gingen, legte Dia den Arm um sie, und Polly fühlte sich ihr auf eine seltsame Art nah und fern zugleich.
Ihr fiel auf, dass sie den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte. Sie fühlte sich leicht und klein und das gefiel ihr. Als Kind wuchs man und wurde immer größer und größer. Man wurde mit der Zeit immer seltener getragen, immer seltener an der Hand gehalten und irgendwann hörte es ganz auf. Es war ein merkwürdig befriedigendes Gefühl, auf einmal kleiner statt größer zu werden, so als könnte man sich nach Lust und Laune zurückentwickeln.
»Ich lass dich zu Hause raus und fahr noch mal ins Atelier, ja?«, sagte Dia.
»Klar. Du, ich hab eine Idee!«
»Und zwar?«
Ihre Mutter fuhr vom Parkplatz. Sie runzelte die Stirn, als hätte sie Kopfschmerzen.
»Ich könnte doch mitkommen! Ich könnte im Atelier zeichnen oder lesen. Ich würde dich auch bestimmt nicht stören.«
Polly war oft mit im Atelier gewesen, als sie noch kleiner gewesen war. Als Baby hatte sie in ihrem Laufställchen gespielt, später hatte sie mit ihren Stiften an einem kleinen Tisch gesessen und gemalt. Und wenn sie im Kinderbettchen ihren Mittagsschlaf gemacht hatte, hatte ihre Mutter sie manchmal gezeichnet.
Damals war das Atelier mit Skulpturen und Fotos, mit Holz und Ton angefüllt gewesen. Die Sperrmüll-Fundstücke ihrer Mutter stapelten sich überall, die Wände waren mit Zeichnungen übersät, dazwischen fand sich Essbares und die eine oder andere verwelkte Topfpflanze.
Als Polly sechs gewesen war, hatte Dia mit einer ihrer Bronzeskulpturen, die heute in der Innenstadt vor einem Geschäftshaus stand, einen wichtigen Kunstpreis gewonnen. Daraufhin hatte sie sich vor Aufträgen kaum retten können und bekam sogar eine Anfrage von einer bekannten New Yorker Galerie, die ihre Werke ausstellen wollte.
Mittlerweile bekam Dia so viele Anfragen, dass sie die meisten davon ablehnen musste, und die Ausstellung in der Galerie wurde von Jahr zu Jahr verschoben. Polly dachte oft, dass ihre Mutter als erfolglose Künstlerin eigentlich glücklicher gewesen war als jetzt, wo sie Erfolg hatte.
»Ach, Polly.« Ihre Mutter nahm den Pappbecher mit Eiskaffee aus der Halterung zwischen den Sitzen, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. »Heute ist es schlecht, ich hab wahnsinnig viel zu tun und muss mich wirklich konzentrieren. Aber bald mal wieder, ja?«
Sie fuhren schweigend durch Bethesda und bogen in die Solomon Street ein.
»Dia?«
»Ja?«
»Nächsten Monat ist in New York so eine Model-Tagung, zu der alle Mädchen aus dem Kurs gehen. Ich würde auch gern hinfahren.«
Dia hob die Brauen, sah Polly aber nicht an. »In New York?«
»Die Tagung dauert drei Tage und die Talentscouts aller wichtigen Model-Agenturen sind da. Es kann gar nicht jeder einfach mitmachen, man muss sich richtig bewerben. Vielleicht werd ich ja gar nicht zugelassen, aber ich hab für alle Fälle mal meine Bewerbung hingeschickt.«
»Und wenn sie dich annehmen, musst du hundert Dollar Gebühr bezahlen, stimmt’s?«, knurrte Dia. »Ich weiß gar nicht, was mit dir los ist, Polly. Du denkst ja an gar nichts anderes
mehr, magerst ab und bist völlig besessen von diesem Modelkram. So warst du doch früher nicht, ich begreif das nicht.«
Da irrte Dia sich. Polly war früher schon ganz genauso gewesen. Sie hatte sich den Sachen, für die sie sich begeisterte, schon immer mit voller Leidenschaft hingegeben, egal ob es Schmetterlinge waren, Pappmaché-Figuren, Piraten oder die Romane von Philip Pullman. Und jetzt eben Modeln.
»Ich interessiere mich einfach dafür. Ich würde gern wissen, ob ich Talent dafür habe.«
Dia hielt vor dem Haus und drehte sich zu Polly um.
»Was hat das mit Talent zu tun? Du stehst einfach rum und versuchst so auszusehen, wie
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