Summer Sisters
Gefühl hatte sie jetzt auch.
Die Sonne verschwand hinter den Berggipfeln und das Tal erstrahlte in wunderschönen Farben.
Auf einmal hatte sie das Gefühl, die Landschaft vom Poster wiederzuerkennen.
Sie hatte Carly gesagt, dass sie heute Nacht nicht im Zelt schlafen wollte. Sie wusste selbst nicht genau, warum.
»Ich bring niemanden mit rein, ehrlich«, hatte Carly versichert, und Ama hatte gegen ihren Willen lachen müssen.
»Danke. Aber ich möchte heute Nacht einfach gern draußen sein.«
Als sie in ihrem Schlafsack lag, lauschte sie auf die vielen Geräusche.
Ab und zu knackte ein Zweig in dem verlöschenden Lagerfeuer. Eine leichte Brise ließ Baumkronen und Büsche rascheln. Aber hauptsächlich hörte Ama die Vögel. Viele unterschiedliche Vögel, wahrscheinlich waren sogar Eulen dabei. Immer mal wieder war ein durchdringender Laut zu hören, vielleicht von einem Vogel oder einem Kojoten oder möglicherweise sogar von einem Wolf. Sonst wäre sie jetzt vor Angst erstarrt, aber komischerweise blieb sie ganz ruhig. Ihre entspannten Glieder fühlten sich so schwer an, als würden sie in den Boden einsinken.
Aus irgendeinem Grund hatte sie keine Angst. Sie hatte es bis hierher geschafft, ohne von einem Wolf gefressen zu werden - also würde sie es auch noch eine weitere Nacht schaffen.
Wer bist du und was hast du mit Ama gemacht? , hatte Jo immer gewitzelt, wenn sie irgendwas getan hatte, was Jo überrascht hatte. Es war lange her, dass Ama sich selbst überrascht hatte.
Sie döste inmitten der allmählich nachlassenden vielstimmigen Vogelrufe langsam ein. Während sie immer tiefer in die Müdigkeit sank, erwachte in ihr eine Erinnerung, die noch älter war als das Hinunterrollen am Pony Hill. Die Geräusche um sie herum berührten ein tief verborgenes Gefühl. Erinnerungen
an Kumasi tauchten auf, die nur noch in Splittern existierten: Bilder, Töne, Gerüche. Die Vogelstimmen dort waren anders gewesen, und doch musste sie an all die rau krächzenden oder schrill pfeifenden Vögel denken, die im Mangobaum vor ihrem Haus gelärmt hatten. Sie dachte an die Vögel, die im Hof genistet hatten, wo sie immer spielte, und wie sie manchmal beim lauten Geräusch einer Autohupe alle aufstoben und zusammen wegflogen. Ama sah sich auf einer Decke auf dem Boden spielen und nach oben schauen und sie sah den Vogelschwarm vor dem leuchtend blauen Himmel.
Plötzlich hatte sie Mitleid mit ihrem kleinen Bruder Bob, der hier geboren war. Sie vermisste ihn schmerzlich, als sie an ihn dachte, an seine kleinen Milchzähne und seinen großen, runden Kopf. Er hatte niemals einen Mangobaum vor der Tür gehabt, nur einen Flur mit einem Läufer und zwei Aufzügen.
Nicky und Katherine spielten auf dem sonnenbeschienenen Teppich in der Diele des auf Eisschranktemperatur herunterklimatisierten Hauses der Rollins’ mit Polly Mikado. Ihr Geist hatte sich wieder einmal davongemacht und schwebte auf seinem Trapez unter der Decke.
Sie wusste, dass sie ein besserer Babysitter war, wenn ihr Geist im Körper blieb, aber heute gelang ihr das nicht.
Heute wollte sie nicht das hungrige, vor Kälte bibbernde Mädchen unten auf dem Teppich sein, sondern sich vorstellen, wie sie sich zweidimensional auf den Hochglanzseiten einer Zeitschrift machen würde. Sie sah ihr Gesicht in einer Anzeige für Lipgloss und ihren Körper in einer Deowerbung. Aber im Geist sah sie eine andere Polly, eine schönere, am Computer bearbeitete Ausgabe ihres Gesichts, mit geraden Zähnen und wissendem Blick.
Sie sah turmhohe Zeitschriftenstapel mit ihrem Bild darin, die in einer Lagerhalle darauf warteten, zu Bündeln zusammengepackt und dann auf Lastwagen überallhin gefahren zu werden. Sie sah, wie sie im Frachtraum eines Flugzeugs in alle Teile der Erde reisten. Sie stellte sich vor, wie jeweils ein winziger Teil von ihr mit all diesen Zeitschriften überall dorthin gebracht wurde, wo die Flugzeuge hinflogen.
Sie stellte sich vor, wie alle Leser, die in den Zeitschriften blätterten, sie ansahen - und sie schaute zurück. Sie wurde gesehen und bekam umgekehrt alle Menschen zu sehen, die sie kannte oder irgendwann kennenlernen würde, sogar Menschen, die sie nicht kannte, aber kennenlernen wollte, wie zum Beispiel ihren Vater. Ob ihr Vater sie in einer Zeitschrift sehen würde? Wenn ja, würde er sie erkennen? Würde er einen Augenblick lang das Gefühl haben, seine Mutter zu sehen, als sie jung gewesen war?
Man kam so viel mehr rum in der Welt, wenn
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