Summer Sisters
man ein zweidimensionales Foto war, als wenn man in einem richtigen Körper steckte. Man konnte an so viel mehr Orte reisen, wenn man gewichtslos war. Ich wäre gern zweidimensional , dachte Polly sehnsüchtig. Und genau das wurde man, wenn man ein Model war.
17
»Habt ihr heute Abend schon was vor?«, fragte Jo Megan, als sie einen Stapel Speisekarten zum Empfangstisch zurückbrachte.
Megan zögerte, während die Speisekarten ins Regal einsortierte.
»Ja, allerdings ziehen heute Abend nur die richtigen Kellnerinnen los«, sagte sie entschuldigend. »Effie hat das geplant.«
»Ach so. Schade, meine Mutter ist nämlich heute Abend nicht zu Hause. Ich hab sturmfreie Bude. Ihr könntet alle zu mir kommen.« Warum habe ich meinen Trumpf bloß so schnell ausgespielt?, fragte sich Jo sofort, nachdem sie das gesagt hatte.
Megan sah sie fast ein bisschen mitleidig an. »Ich glaub nicht, dass da was draus wird, Jo. Effie hat sicher was anderes vor.«
»Wir haben daheim jede Menge leckere Sachen zu essen. Meine Mutter und ich haben groß eingekauft. Wir könnten die Jungs ja auch noch einladen. Außerdem...«, Jo senkte die Stimme und flüsterte verschwörerisch, »... ist die Hausbar gut gefüllt.«
Ein Teil von Jo spaltete sich von ihr ab und fragte sich, warum in aller Welt sie das alles sagte. Ihre Mutter würde hundertprozentig dahinterkommen, dass sie Leute eingeladen hatte und dass die ihre Alkoholvorräte geplündert hatten. So
was hatte sie noch nie getan, und sie wusste, dass sie sich deshalb einen Riesenärger einhandeln würde.
Warum machte sie das?
»Jo.« Megan sah gequält aus. »Vielleicht ein anderes Mal, okay? Effie hat ausdrücklich gesagt: keine Hilfskellnerinnen. Ich hab mir das nicht ausgedacht.«
»Ich bin doch schon ganz oft mit euch weg gewesen. Kannst du das Effie nicht sagen?«
Megan zog eine Grimasse, die Jo lieber gar nicht zu genau deuten wollte.
Es hatte etwas mit Zach zu tun, das wusste sie. Als Zachs Freundin war sie für die anderen interessant gewesen, aber jetzt, wo Effie wieder da war und ihre alten Rechte geltend machte, schwand das Interesse an ihr und damit ihr Wert. Jo kam es so vor, als ob niemand sie mehr ansah oder mit ihr reden wollte. Man mied sie. Und Zach ging ihr auch aus dem Weg.
Warum schlugen sich alle so bereitwillig auf Effies Seite? Sie hatten wochenlang mit Jo zusammengearbeitet, wussten sie denn nicht, dass sie und Zach wirklich etwas miteinander gehabt hatten? Dass es mehr gewesen war als nur ein bisschen Knutscherei? Sie hatte genau so viel Anspruch auf ihn wie Effie, wenn nicht sogar mehr.
Es kam ihr beinahe so vor, als hätten die anderen Angst vor Effie. Jo nicht. Sie hatte keine Angst vor ihr. Im Gegenteil, sie wollte, dass Effie Angst vor ihr bekam.
Um zehn Uhr gingen die letzten Gäste, anscheinend wussten sie, dass Jo heute am liebsten überhaupt nicht nach Hause wollte. Sie sah, wie die Kellnerinnen aufgebrezelt und aufgestylt aus dem Surfside strömten. Von einem Tag auf den anderen war Effie zu ihrer Anführerin geworden, und ihr war es anscheinend sehr viel wichtiger als den anderen, dass die Kellerinnen ganz unter sich blieben.
Jo konnte jetzt unmöglich nach Hause gehen, wo niemand auf sie wartete und sie nur tatenlos rumsitzen würde. Sie hätte Bryn anrufen können, aber aus irgendeinem Grund wollte sie das nicht. Am liebsten hätte sie Polly angerufen, aber das ging jetzt nicht mehr, nachdem sie beim letzten Mal so gemein zu ihr gewesen war. Ihren Vater konnte sie vor lauter schlechtem Gewissen nicht anrufen, weil sie immer wieder vergessen hatte, sich bei ihm zu melden.
»Ich begreife einfach nicht, warum du ihn nicht angerufen hast«, hatte ihre Mutter vor ihrer Abreise nach Baltimore gesagt.
»Wenn er mit mir reden will, kann er mich doch anrufen«, hatte Jo erwidert.
»Vielleicht ruft er nicht an, weil er dann womöglich erst mit mir reden müsste, bevor er mit dir reden könnte«, hatte ihre Mutter gemeint.
Jo musste zugeben, dass sie mit dieser Vermutung recht haben könnte.
»Aber er kann mich doch auf dem Handy anrufen. Warum macht er das nicht?«
»Weil er zu altmodisch ist.«
Das stimmte tatsächlich. Jos Vater hatte kein Handy, sondern nur einen Piepser, über den ihn das Krankenhaus erreichen konnte. Wahrscheinlich kannte er nicht mal ihre Handynummer.
Statt nach Hause zu gehen, setzte Jo sich für eine Weile in das Büro des Surfside , wo um diese Uhrzeit nie jemand war. Was Ama wohl gerade machte?
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