Summer Sisters
War sie hier überhaupt richtig?
Das konnte doch unmöglich das Atelier ihrer Mutter sein, denn das war immer bis auf den letzten Zentimeter vollgestellt gewesen, und dieser Raum hier war leer. Polly ließ den Blick durch das Atelier wandern, aber da war nichts. Nur in der hinteren
linken Ecke standen zwei Töpferscheiben, die von einer getrockneten Tonschicht überzogen waren und offensichtlich schon länger nicht mehr benutzt worden waren.
Wo waren die Skulpturen und das Holz und der Ton, wo waren all die Zeichnungen und Skizzen? Wo waren die riesigen Tonnen, in denen Dia die kaputten Handys, Armbanduhren und Computerteile sammelte?
Solange Polly denken konnte, hatte ihre Mutter fast jeden Tag im Atelier verbracht - warum waren ihre Sachen nicht hier?
Sie drehte sich langsam um und sah nach rechts. Ihr Blick glitt an der Wand entlang bis zu dem kleinen Tisch, ihrem alten Kindertisch, an dem sie immer gezeichnet hatte, während ihre Mutter arbeitete. Er war noch da, aber jetzt stand ein Laptop darauf. Weiter hinten in der Ecke sah sie das alte Kinderbett, in dem sie so oft geschlafen hatte. Sie fühlte sich wie der Zwerg aus »Schneewittchen«, als ihr aufging, dass jemand in dem Bett lag. Aber sie wusste, dass das hier kein Märchen war.
»Dia?«, fragte sie mit erstickter Stimme.
Ihre Mutter rührte sich nicht.
Sie schlief zusammengerollt in dem Kinderbett, das Gesicht zur Wand gedreht, die nackten Füße hingen über das Fußende hinaus.
Etwa einen halben Meter vom Fußende entfernt stand ein alter Nachttisch mit einem Fernseher darauf, daneben zogen sich zweireihig Flaschen die Wand entlang. Die meisten waren Weinflaschen, entkorkt und leer.
Angst stieg in Polly auf. Sie wollte, dass ihre Mutter sie tröstete und ihr erklärte, was hier los war, aber gleichzeitig fürchtete sie sich vor Dia. Diese Frau, die hier in diesem merkwürdig veränderten Raum mit dem Rücken zu ihr schlief, konnte
nicht ihre Mutter sein - und doch wusste Polly, dass Dia sich nur umdrehen musste, dass sie nur einen Blick in ihr Gesicht werfen musste, um wieder ihre Mutter zu sehen.
»Dia?« Polly spürte, wie sich die Tränen in ihren Augen sammelten. Leise ging sie auf das Bett zu. Bitte komm wieder zurück. Sei nicht böse auf mich.
Ihr Blick fiel auf die Nische, die früher einmal ein Wandschrank gewesen war. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie ihre Mutter einfach die Türen abgeschraubt und mit ihr zusammen auf die Straße heruntergetragen hatte - aus dem Wandschrank war eine Nische geworden, in der Dia immer ein paar ihrer Kunstwerke ausgestellt hatte. Polly war begeistert darüber gewesen, wie einfach man einen alten Wandschrank zum Blickfang eines Raums machen konnte, wenn man das Talent dazu hatte.
Ihre Mutter hatte es gehabt.
Jetzt stapelten sich Bücher auf dem Holzboden, darüber hingen drei Zeichnungen nebeneinander, die einzigen ausgestellten Werke ihrer Mutter. Sie zeigten eine schlafende Polly aus unterschiedlichen Perspektiven - das kleine Mädchen, das sie vor langer Zeit einmal gewesen war.
Nach der Arbeit setzte Jo sich an den Computer und entwarf eine E-Mail. Es war gut, dass ihre Mutter nicht zu Hause war und sie ihren Tränen freien Lauf lassen konnte. Außerdem konnte sie ungestört über ihrer Mail brüten und eine Fassung nach der anderen schreiben. Sie hatte schon mehrere Anläufe gemacht, die Entwürfe aber immer wieder verworfen, weil sie einfach nicht den richtigen Ton fand: Mal war er zu nett und harmlos, mal zu unpersönlich, dann wieder zu gestelzt - am Ende entschied sie sich für die ehrliche Version.
To: Pollymaus444
Von: Jobodobo
Betreff: Kummer und Scham
Liebe Polly, was bei deinem Besuch passiert ist, tut mir unendlich leid. Ich weiß, dass du gehört hast, was ich zu Bryn gesagt habe, und ich könnte jedes Mal heulen, wenn ich daran denke - was ich praktisch den ganzen Tag tue.
Ich gebe ganz ehrlich zu, dass ich nicht gewollt habe, dass du mich besuchst. Das war total gemein und ich schäme mich auch wirklich dafür. Ich war einfach so sehr auf meinen Job, auf die anderen Mädchen und diesen Typen fixiert, von dem ich mir eingebildet habe, ich wäre irgendwie mit ihm zusammen, dass nichts anderes mehr für mich gezählt hat.
Es kam mir vor, als wäre das das einzig Wichtige auf der Welt und als würdest du dabei nur stören. Ich weiß, dass ich dich damit sehr verletzt habe und dass das überhaupt nicht stimmt, aber so kam es mir vor.
Es macht mir irgendwie
Weitere Kostenlose Bücher