Summer Sisters
Polly gesagt hatte, und wie sehr sie sich gewünscht hatte, es würde nicht stimmen.
»Haben die Betreuer dir gesagt, dass du bleiben sollst?«
»Nein, Maman. Das ist ganz allein meine Entscheidung.«
»Bist du dir ganz sicher?«
»Ja.« Ama sah auf ihre Stiefel. »Hier ist es wirklich richtig schön, weißt du.«
»Wirklich?«
»Ganz ehrlich. Ein bisschen wie in Kumasi.«
»Ach.« Ihre Mutter schwieg erstaunt.
Erst nachdem Ama sich verabschiedet und aufgelegt hatte, wurde ihr klar, dass es ihr viel leichter fiel hierzubleiben, seitdem sie wusste, dass sie jederzeit gehen konnte.
Eine Viertelstunde vor Beginn der nächsten Mittagsschicht summte eine SMS von Bryn auf Jos Handy: an deiner stelle würd ich mich krankmelden.
Jo hatte selbst schon daran gedacht, sich krankzumelden. Sie lief auch immer noch im Schlafanzug rum. In der Küche hatte sie ein paarmal theatralisch gehustet und versucht, sich und irgendwelchen Nachbarn, die sie vielleicht sahen oder hörten, eine Erkältung vorzuspielen.
Aber als sie jetzt auf die SMS starrte, dachte sie noch einmal neu darüber nach.
Alle wussten Bescheid.
Alle.
Falls irgendeines der Mädchen es noch nicht wusste, würde Bryn es ihr schon stecken. Wahrscheinlich wusste sogar Hidalgo Bescheid. Alle redeten darüber, dabei hatte die Schicht noch nicht mal begonnen.
Was war mit Zach? Was machte er wohl?
Jo ging in ihr Zimmer und zog sich schnell an. Die anderen hielten sie jetzt vielleicht für eine Schlampe und wahrscheinlich würden ihr sämtliche Mitarbeiter des Surfside die Freundschaft kündigen, aber sie war kein Feigling. Wenn es sein musste, würde sie sich das Büßerhemd überwerfen, aber sie würde zur Arbeit gehen. Die Tatsache, dass sowieso alle Bescheid wussten, machte es auf eine sonderbare Art leichter.
Bryn war die Erste, die Jo sah, als sie zur Tür reinkam. In Sekundenschnelle war sie an ihrer Seite.
»Hast du meine SMS nicht gekriegt?«, flüsterte sie eindringlich.
Jo nickte. »Doch.«
»Was willst du dann hier?«, fragte Bryn atemlos. Das, was hier passierte, war das Drama dieses Sommers, und Bryn war offensichtlich stolz darauf, dass sie eine Rolle darin spielte.
»Was soll ich denn tun? Mich für den Rest der Ferien krankmelden?« Jo machte sich nicht die Mühe zu flüstern.
»Effie will dich umbringen, hat Violet erzählt. Mehr sag ich dazu nicht«, zischte Bryn.
»Wenn sie mich umbringt, dann hat sie eine Menge Zeugen.«
Das Gute am Unglücklichsein war, dass es einem völlig egal war, was einem passierte oder wer was über einen sagte.
»Tut mir leid, Jo, aber du bist echt verrückt.«
»Danke, dass du dich so um mich sorgst.«
Jo verstaute ihre Sachen in ihrem Spind und band sich die Schürze um. Als sie am Büro vorbeikam, sah sie Jordan an seinem Schreibtisch sitzen. Sie hoffte, er würde sie wie sonst fürs Besteck einteilen, aber er schien zu wittern, dass das heute ihre Rettung wäre.
»Heute hilfst du beim Bedienen, Joseph«, bellte er sie an. »Bereich eins.«
Jo zögerte kurz. »Ist Zach da?«, fragte sie heiser.
Jordan warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Er wusste also auch Bescheid.
»Hat sich krankgemeldet.«
Feigling. Jo konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sein Gesicht gestern ausgesehen hatte. Sie wünschte sich, er wäre wirklich ein Freund, jemand, dessen Liebe helfen konnte, jede noch so schlimme Situation zu überstehen, aber seit gestern wusste sie, dass er das nicht war.
Als sie in den Speiseraum kam, überfiel sie plötzlich die Ahnung, dass Jordan ihr noch übler als gedacht mitgespielt hatte. Ohne hinzuschauen wusste sie, welche Kellnerin heute im Bereich eins bediente. Sie überlegte, ob das vielleicht seine Rache für die geklauten TicTacs war.
Effie stand mitten im Durchgang zu Bereich eins. Megan
war im Bereich drei. Violet stand am Empfangstresen. Jo sah von einer zur andern.
Wie schlimm ist es?, hätte sie Megan oder Violet gern stumm gefragt, aber keine der beiden sah sie an. Auch Scott würdigte sie keines Blickes, dafür summte er im Vorbeigehen ein Lied: »Under the Boardwalk«. Wie passend.
Tja, man braucht nur den Freund einer anderen zu küssen, wenn man wissen will, wer seine wahren Freunde sind. Und ganz offensichtlich hatte Jo im Surfside keine Freunde mehr.
Es gab nur einen einzigen Menschen, der ihr einen Blick gönnte, und das war blöderweise Effie. Einen Blick, der alles andere als freundlich war.
Jo überlegte, ob sie einfach zu ihr hingehen und sich entschuldigen
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