Summer Sisters
du hier?«, fragte sie noch einmal, jetzt mit festerer Stimme.
»Ich... ich...« Polly tastete nach dem zerknitterten Brief in ihrer Hosentasche. »Nichts. Ich bin einfach so hier.«
»Du bist ohne jeden Grund den ganzen Weg bis hierher gelaufen?«
»Ich hab... ich dachte...« Polly wusste nicht mehr, warum sie hergekommen war. Ihr fiel nicht mehr ein, wie die Tagung hieß, an der sie teilnehmen wollte. »Ich geh besser wieder.«
»Polly.« Dia schlang beide Arme um ihren Oberkörper, als wäre ihr kalt, obwohl die Sonne warm ins Atelier schien.
Ihre Mutter war fast nie zum Mittag- oder Abendessen zu Hause gewesen. Sie hatte Polly mindestens hundertmal zu spät zum Kindergarten gebracht oder von der Schule abgeholt. Sie war zu keiner ihrer Theateraufführungen gekommen und hatte mehr als einmal ihren Geburtstag vergessen. Sie hatte Pollys Zahnarzttermine vergessen und ihre Klavierstunden - weil sie immer und unbedingt ins Atelier musste.
Polly hatte geglaubt, dass das Atelier mittlerweile voller Skulpturen stehen müsste, weil Dia immer so lange dort geblieben war und gearbeitet hatte. Wo waren sie? Wo waren die ganzen anderen Sachen, die sie für ihre Kunst brauchte?
Was hatte das zu bedeuten? Was machte ihre Mutter, wenn sie hierherkam?
Polly wollte ihre Mutter nicht anschauen und sie wollte auch keine Erklärungen von ihr hören.
»Wir sehen uns dann zu Hause«, murmelte sie.
»Polly, warte. Was hast du da in der Hosentasche?« Dia stand auf und ging auf sie zu.
Pollys Finger berührten den Brief. »Nichts.«
»Komm, zeig’s mir.«
Gehorsam zog Polly den Brief heraus und reichte ihn ihrer Mutter. Dia strich ihn glatt und überflog ihn.
»Der ist von diesem Model-Dings in New York. Die haben dich angenommen.«
»Ja.«
»Dann bist du doch jetzt bestimmt überglücklich.«
Polly wusste nicht, was sie empfand, aber Glück war es ganz bestimmt nicht.
»Und du willst unbedingt hinfahren, stimmt’s?«
Polly zuckte die Achseln. Sie war plötzlich müde und wollte nur noch schlafen.
»Es ist nicht so schlimm, wenn du mich nicht begleiten kannst.«
Dias Blick wanderte durch den leeren Raum, während sie überlegte.
»Aber vielleicht kann ich es ja. Ein paar Tage New York würden mir vielleicht guttun.«
Polly rührte sich nicht.
»Weißt du was? Ich glaube, das ist eine gute Idee. Komm, wir fahren nach Hause und schauen, wann die Züge fahren und was die Fahrkarten kosten und wie wir das alles hinkriegen können.«
Mit plötzlich erwachter Energie griff Dia nach ihrer Tasche
und ging zur Tür. Polly folgte ihr und sah zu, wie sie das Atelier abschloss. Es gab so viele Fragen, die sie nicht gestellt, und so viele Antworten, die Dia ihr nicht gegeben hatte. War das die unausgesprochene Abmachung? Wer nicht gefragt wird, muss auch nicht antworten?
Jo war immer noch damit beschäftigt, die Wein- und die Saftlachen aufzuwischen und Glasscherben aufzulesen, als sie ins Büro gerufen wurde. Mit hängenden Schultern schlich sie durch den endlos groß erscheinenden Speiseraum und spürte schmerzhaft jeden einzelnen Blick, der auf sie gerichtet war.
»Hallo«, sagte sie müde, als sie vor Richards Schreibtisch stand, aber er machte ein Gesicht, als wäre das nicht das, was er von ihr erwartet hatte.
»Jo.«
»Ja.«
»Du weißt sicher, dass die Aktion von eben ein Kündigungsgrund ist. Und noch dazu ein ziemlich teurer.«
Sie nickte.
»Ich weiß, dass es keine Absicht war. Aber meine Güte, Mädchen, hat das wirklich sein müssen?«
Sie schüttelte den Kopf. Nein, von ihr aus hätte es nicht sein müssen, aber Effie hatte es wohl für nötig gehalten. Das hätte sie Richard sagen können, aber was hätte das schon gebracht? Sie wollte nicht noch mehr Ärger mit Effie, als sie sowieso schon hatte.
»Bis jetzt hast du immer tadellos gearbeitet, wir waren sehr zufrieden mit dir.«
»Danke«, murmelte sie. Ihr Blick fiel auf die geöffnete Tür, und sie sah, dass Jordan dort lauerte. Am liebsten hätte sie ihm eine reingehauen.
»Wenn es die Sache einfacher macht, kann ich auch von mir aus kündigen«, bot sie an.
Richard seufzte. »Es ist egal, wie wir es machen.«
»Okay, verstehe. Danke. Und Entschuldigung für alles.«
»Alles Gute, Jo.«
Jordan machte ihr betont höflich Platz, als sie das Büro verließ. Jo nahm ihre Schürze ab und ging in die Küche. Hidalgo verabschiedete sich mit einer Umarmung von ihr und Carlos tätschelte ihre Schulter. Bevor ihr die Tränen aus den Augen
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