Summer Sisters
auf die Küchenuhr. Sie wünschte sich die Zeiten zurück, als sie einfach jederzeit bei Jo oder Ama anrufen konnte - und die beiden sich noch freuten, ihre Stimme zu hören. Sie hätte so gern jemandem von dem Brief erzählt.
Sie sah durchs Fenster auf die Straße hinaus. Sie war so aufgedreht, dass sie es sogar dem Nachbarn oder dem Müllmann erzählt hätte, wenn sie ihr über den Weg gelaufen wären. Aber niemand war zu sehen. Sie überlegte sogar, ob sie Onkel Hoppy in seinem Seniorenheim anrufen sollte, aber er hörte so schlecht, dass er nicht mehr telefonieren konnte. Polly stellte sich vor, wie er ihre Geschichte von ihren Lippen ablesen würde, und musste lächeln. Nein, das war albern.
Sie musste mit Dia reden.
Entschlossen steckte sie einen Zehndollarschein und den Hausschlüssel ein und stürzte aus der Wohnung. Das Atelier war vier Kilometer weit weg, aber Polly kannte den Weg gut, außerdem verbrannte sie eine Menge Kalorien, wenn sie zu Fuß dorthin ging.
Dia musste es ihr erlauben. Unbedingt .
Polly konnte fast alles aus eigener Tasche bezahlen, wenn sie weiterhin so oft babysittete. In den letzten fünf Tagen hatte sie immerhin über zweihundert Dollar verdient. Außerdem könnte sie zusätzlich noch Hunde ausführen und Mrs Rollins
und den anderen Eltern sagen, dass sie ihre Kinder gern noch öfter hüten könnte. Wenn es sein musste, könnte sie auch noch Handzettel in der Nachbarschaft verteilen.
Polly nutzte den Weg zum Atelier, um verschiedene Rechnungen aufzustellen. Zuerst rechnete sie aus, wie viele Stunden sie noch arbeiten musste (85), um genug Geld für die Teilnahme an der Tagung zu haben (1160,-, Hotel und Fahrtkosten eingeschlossen). Danach berechnete sie die Kalorien, die sie heute zu sich genommen hatte (bis jetzt 340), und die Anzahl der Kalorien, die sie pro Tag essen durfte (1100), um bis zur Tagung ihr Traumgewicht zu erreichen (51 Kilo).
Als sie das Haus betrat, in dem ihre Mutter ihr Atelier hatte, blieb Polly verunsichert stehen. Die Eingangshalle kam ihr plötzlich so klein vor. War sie schon so lange nicht mehr hier gewesen? Sie konnte nicht mal genau sagen, wie lange es her war. Waren der Linoleumboden schon immer so fleckig und die Wände schon immer so hässlich grün gewesen?
Polly versuchte sich daran zu erinnern, wie sie sich als Kind hier gefühlt hatte, und musste an die weiße Baskenmütze denken, die sie in der vierten Klasse fast täglich aufgehabt hatte. Es konnte doch nicht schon so lange her sein, oder etwa doch?
Zögernd ging sie weiter. Ihre Beine wussten noch genau, wie viele Treppenstufen sie hochsteigen musste. Ihre Hände erinnerten sich an den glatten, kühlen Knauf der Tür, die in den Flur führte, auch wenn sie inzwischen gewachsen war und sich nicht mehr auf die Zehenspitzen stellen musste, um ihn zu erreichen.
Für den Weg zum Atelier brauchte sie weniger Schritte als früher, trotzdem war sie heute langsamer. Als Kind war sie den Flur immer hinuntergerannt und die Wände waren an ihr vorbeigesaust wie steile Berghänge entlang eines Flusses.
Sie wollte die Tür zum Atelier schon aufreißen, zögerte
dann aber und überlegte, ob sie wirklich einfach hineingehen oder vorher anklopfen sollte.
Sie klopfte.
Erst jetzt merkte sie, dass sie in der anderen Hand immer noch den Brief hielt, und stopfte ihn schnell in die hintere Tasche ihrer Jeans. Sie war nervös und versuchte sich vorzustellen, wie ihre Mutter zur Ateliertür kam - so wie damals, als Polly noch oft hierhergekommen war, in der Zeit bevor Dia ihre zweite und dritte Tätowierung hatte stechen und sich das Nasenpiercing hatte machen lassen. Als ihre Haare noch länger gewesen waren und sie sie zum Arbeiten mit rosa Tüchern zusammengebunden hatte. Polly erinnerte sich an die lila Pumphosen, die Dia immer ihre Haremshosen genannt hatte, an die Kuhfell-Clogs und an die Tonspritzer, die auf ihrem schwarzen Rollkragenpullover zu pudrigen Flecken getrocknet waren.
Sie klopfte noch einmal.
»Dia?« Ihr war, als käme ihre Stimme von weit her und würde eine Stille durchbrechen, die schon viel zu lange hier lastete. Sie räusperte sich. »Dia, bist du da?«
War da ein Geräusch? Ein Rascheln?
Sie klopfte ein drittes Mal, und als sich immer noch nichts rührte, drehte sie den Knauf. Wider Erwarten ließ sich die Tür öffnen. Sonnenlicht strömte durch die hohen Fenster in den Raum und blendete sie für einige Sekunden. Vorsichtig trat sie ein.
»Dia? Hallo?«
Sie blickte sich um.
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