Sumpfblüten
still zu sein und zuzuschauen.
Sie dachte an ihren Sohn, wie sie es um diese Tageszeit immer tat. Das Morgengrauen war die Zeit, in der sie sich am sichersten fühlte, am stabilsten, am optimistischsten bei dem Gedanken, einen Jungen mit Frys Ernsthaftigkeit und seinem vollen Herzen in die Welt hinauszuschicken. Im Morgengrauen verschwanden ihre privaten Schreckgespenster, wenn auch nur für kurze Zeit, und warme Hoffnung erstrahlte. Die Abendnachrichten ließen sie darüber nachdenken, ob Gott tot war; die Morgensonne ließ sie glauben, dass dem nicht so war.
Als die ersten Lichtsplitter entlang des rosigen Randes der Everglades erschienen, sog Honey die Luft ein. Für sie war dieser Augenblick unendlich trostreich und erlösend; Boyd Shreave schien nichts davon wahrzunehmen.
»Geht ganz schön weit runter«, brummte er und schielte angstvoll nach unten.
»Psst«, sagte Honey.
Fry war genau bei Sonnenaufgang geboren worden, und das Muttersein war über Honey hereingebrochen wie eine Sturmflut. Nichts war danach mehr dasselbe, und keine Beziehung blieb ungeprüft – zu ihrem Mann, zu ihrer Familie und zum Rest der Menschheit. Honeys Leben war aus seinen Umlaufbahnen gesprungen, und im Zentrum ihres neuen Universums leuchtete ganz allein ihr Sohn.
»Ich brenne ja darauf, Ihren Plan zu hören, wie wir hier wegkommen sollen«, maulte Shreave.
Licht flutete in den wolkenlosen Himmel wie eine flammende Pfütze.
»Ich gehe zu dem Indianer und hole unsere Kajaks«, sagte Honey. »Dann paddeln wir beide zum Festland zurück und verabschieden uns voneinander.«
»Richtig. Genies Indianer.« Shreave lachte harsch. »Sie werden ihm den Arsch aufreißen, nicht wahr?«
»Würden Sie bitte still sein? Schauen Sie doch, was Sie verpassen.«
In dem Augenblick, als sich die Sonne vom Horizont löste, begann sie von Rot zu Bernsteingelb zu verblassen. Gleichzeitig erstarb der Wind, und ein klares Schweigen legte sich über die Insel.
Die Aussicht aus dem Wipfel des Flammenbaums war zeitlos und heiter – Reiher überquerten in langer Reihe die fernen Sümpfe; eine Schar weißer Pelikane kreiste über einer nahe gelegenen Bucht; ein Fischadlerpaar schwebte wie Flugdrachen über einem Gezeitenstrom. Es war ein vollkommenes Bild und eine vollkommene Stille.
Und auf Boyd Shreave hatte das alles nicht die geringste Wirkung.
»Ich muss kacken«, verkündete er.
Honey krümmte sich vornüber und hielt sich den Kopf. Der Mann war unerreichbar, ein trockener Brunnen. Für einen solchen Klotz konnte es kein Erwachen geben, keine Wiedergeburt des Staunens. Er war unempfänglich für den Zauberbann einer Morgendämmerung in den Everglades, für die Größe und die Friedlichkeit der Wasserlandschaft. Die Natur hält für einen Menschen, der des Staunens nicht mächtig ist, nichts bereit; Shreave war für alle Zeit bestimmt, unbeeindruckt zu sein.
Es ist hoffnungslos, sagte Honey sich. Der großmäulige Telefonschwätzer würde unverändert nach Hause zurückkehren, so seicht und ichbezogen wie eh und je. Wieder einmal kam Honey sich dumm und besiegt vor, die Königin der sinnlosen Unterfangen.
»Haben Sie nicht gehört?«, fauchte Shreave. »Ich muss sofort runterklettern und einen abseilen.«
Honey richtete sich auf ihrem Ast auf und atmete den Morgen ein. Die salzige, kühle Luft hatte ihre Nebenhöhlen wieder frei gemacht. »Schön, Boyd, dann los.«
»Was wollten Sie mir hier oben eigentlich zeigen?«
»Ich fürchte, Sie haben es verpasst.«
»Was verpasst?«
Heldenhaft widerstand Honey dem Drang, ihn mit einem Schlag vom Baum zu fegen.
»Kommen Sie«, sagte sie, »bevor Sie sich noch in die Hose machen.«
Bei seinem zaudernden und zagenden Abstieg hatte Shreave ungeheure Ähnlichkeit mit einem rheumatischen Faultier. Zweimal bekam Honey ihn zu fassen, als er abrutschte, doch es kam ihm nicht in den Sinn, sich zu bedanken.
Als er wieder festen Boden unter den Füßen hatte, schnappte Shreave sich Storm Ghoul aus seiner Reisetasche und eilte auf ein paar Sträucher zu.
»Vergessen Sie nicht, hinterher alles wegzumachen!«, rief Honey ihm nach.
Shreave schnaubte abfällig, ließ seine Hose herunter und begann zu lesen:
Während des ganzen Gerichtsverfahrens gab ich mich stark und gefasst, innerlich jedoch war mein Herz in Stücke gerissen. Die grausige Wahrheit war, dass ich noch immer an Van Bonneville hing, obwohl er ein Ungeheuer war. Als der Tag kam, an dem ich in den Zeugenstand treten sollte, schwor ich
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