Suna
was mit Emine ist und was sie braucht. Aber Ingrid sagt, sie solle bloß die Klappe halten, solange sie im Büro von der Leiterin säßen, sie würde das regeln. Damit Julka ihren Aufenthalt nicht verliere und Emine die gute deutsche Versorgung bekomme. Und sie solle ja nichts sagen über Kamil, damit die nicht auf die Idee kämen, dass sie Emine in die Türkei schicken könnten. Also sitzt Julka stumm wie ein Fisch auf ihrem Stuhl.
»Das Kind braucht ein Attest«, sagt die Heimleiterin und Ingrid kritzelt auf einen Block irgendwas, das aussieht wie »Attest«, aber auch Kyrillisch sein könnte.
Jetzt schreibt der Arzt »Neurodermitis« auf seinen Block und wünscht Julka viel Glück.
Julka geht mit Ingrid und dem Attest zum Jugendamt, das sei auch irgendwie nötig, hat die Heimleiterin gesagt.
Frau Weigand vom Jugendamt hört zu. Frau Weigand fragt nicht nach dem Vater. Frau Weigand stellt ihre Fragen ganz ruhig und freundlich. Sie spricht langsam, aber nicht so, dass es in Julkas Ohren so klingt, als würde sie das nur für sie machen. Frau Weigand sieht eigentlich sehr sympathisch aus.
Am Ende ist alles gut, und Emine darf »in Obhut« gehen ins Kinderheim zu Schwester Bonifazia, und Julka wird sie jeden Freitag besuchen. Frau Jost richtet für freitags eine Frühschicht ein, damit Julka fahren kann, denn Frau Jost ist sehr froh darüber, Julka behalten zu können und einen guten Platz für das Kind zu wissen. Sie hat sogar Julkas Arbeitsvertrag entfristet, das ist neuerdings möglich.
»Vorübergehende Unterbringung«, sagt Julka bestimmt. Nur vorübergehend. Das schreibt sie auch Kamil. Der muss in seiner türkischen Kaserne doch wissen, wie es seiner Tochter geht und seiner Frau in Deutschland. Das hat er manchmal gesagt zu ihr: meine Frau in Deutschland.
Bald kennt Julka ihr Kind nicht wieder, so fröhlich ist es geworden!
»Noch einen Monat lass ich sie hier«, sagt sie.
»Ich weiß«, sagt Schwester Bonifazia und lächelt.
Der Postbote bringt schließlich die Wahrheit ans Licht.
»Post für Herrn Yurdagül. Wohnt der hier?«, fragt er.
Kamil ist schon seit vier Wochen weg, aber Julka sagt »Ja« und nimmt den Brief entgegen.
Sie legt ihn auf den Tisch. Dann sieht sie sich den Brief an. Es ist kein amtliches Schreiben. Es ist ein handgeschriebener Brief. Mit Tinte geschrieben. Sie liest die Adresse, dann dreht sie den Brief um und liest den Absender. Ayse Yurdagül steht da und eine Straße und ein Ortsname, den Julka kennt.
Es ist Kamils Heimatdorf.
Derselbe Name, dasselbe Dorf und eine Schwester hat Kamil nicht.
Mit zitternden Fingern öffnet Julka den Umschlag. Heraus fällt ein handbeschriebenes Blatt.
Sevgili Canım , geliebter Ehemann, steht hier geschrieben, und von Kindern ist die Rede, das lässt keinen Raum für Zweifel.
Ihre Augen lesen, aber ihr Verstand will es nicht glauben.
Beinahe zwei Jahre lebt sie mit Kamil zusammen, nie, nicht ein Mal hat er ein Wort verloren.
Ein Kind hat er bekommen und nie gesagt, dass er schon zwei hat!
Aber nein, das ist nicht möglich, nicht Kamil. Er lügt nicht, der Dichter, er lügt doch nicht.
Sie setzt sich auf den Boden und lehnt sich an die Wand.
Geliebter.
Kamil hat in der Türkei eine Ehefrau und Kinder.
Er hat eine Familie, zu der er gegangen ist.
Gab es überhaupt eine Einberufung?
Ist irgendein Wort wahr gewesen, das er gesagt hat?
Verlassen hat er sie, ganz einfach.
Aber nicht nur sie, sondern auch seine Tochter. Wäre er geblieben, wenn es ein Sohn gewesen wäre?, fragt sie sich bitter.
Ein Dichter ist er und, ja, das kann man sagen, das hat er gut erfunden, sein Leben mit ihr. »Meine deutsche Frau« hat er gesagt, und jetzt weiß sie, wie er sich das Schlupfloch gebaut hat, »meine deutsche Frau« ist ja keine Lüge! »Meine deutsche Frau« hat sie so gern gehört aus seinem Mund und sich besonders gefühlt dabei.
Hat sie wirklich alles richtig verstanden?
Ahmed, denkt Julka, der soll es auch lesen, und sie geht mit weichen Knien rüber zu Andrusch in die Kneipe.
»Was ist denn mit dir, du siehst aus wie ein Gespenst, hast du eins gesehen?«, fragt der.
Sie will sich nichts anmerken lassen, denn merken lassen würde bedeuten, die Tatsachen anzuerkennen, und das will sie nicht. Noch nicht jetzt.
»Ich hab bloß erfahren, dass Kamil eine Frau hat und eine Familie«, sagt sie in einem Ton, als gäbe es nichts Unwichtigeres, an Verluste ist sie ja gewöhnt, trotz Glückshaube bei der Geburt. Hat nichts genützt.
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