Suna
vielleicht sind die so auf dem Balkan. Als der Krieg dort losging und ich immer noch nicht genug Mut hatte, bei meiner Mutter zu klingeln und einfach zu fragen, was passiert war.
Wir sahen hinüber zum Kloster, wo die Glocken sieben Uhr schlugen. »Stimmt es, dass man im ersten Jahr nachts auf dem Turm gewesen sein muss?«, fragte ich.
»Stimmt«, sagte Tom, »aber es gilt nur, wenn man den gefährlichen Weg über das Dach nimmt. Nicht die Treppe.«
Ich schwieg.
»Hast du Angst?«, fragte Tom.
In dieser Nacht kletterten wir.
Er in Sandalen und ich in Turnschuhen. Wir mussten uns durch ein spätgotisches Fenster im Kreuzgang winden, eine Regenrinne hoch und einen kleinen Vorsprung entlang.
Das Dach oben war feucht vom Tau. Die Turmuhr schlug zwei Uhr. Unter uns nichts als Steinplatten und ein Mäuerchen mit einem Metallzaun.
»Jetzt kommt die gefährlichste Stelle«, sagte Tom.
Vor uns lagen vielleicht sieben Meter Wegstrecke auf einem glatten, steilen Kupferblech, ohne eine Chance, uns irgendwo festzuhalten. Tom ging vor. Auf allen vieren. Erst am Ende, wo das Blech seine schmalste Stelle hatte, könnten wir uns halb aufrichten und uns an einem Fenstersims sichern.
Hinter mir ein steiles feuchtes Dach und nichts, das meinen Fall halten könnte. Zwanzig Meter über dem Abgrund. Ich hatte Angst.
»Nicht zu schnell«, sagte Tom von oben, »du kommst sonst ins Rutschen.«
Ich kletterte, nicht zu schnell. Ich geriet ins Rutschen.
»Mach dich flach«, sagte Tom.
Ich machte mich flach. Ich rutschte. Ich dachte an die Steinplatten. Ich dachte an den Abgrund unter mir.
»Streck deine Arme aus«, sagte Tom.
Ich streckte die Arme aus. Ich rutschte. Ganz langsam rutschte ich die beiden Meter, die ich vorangekommen war, wieder zurück und konnte mich nirgendwo festhalten.
Ich schloss die Augen.
»Leg deine Handflächen auf das Blech, ganz fest«, sagte Tom.
Ich legte die Handflächen auf das Blech, ganz fest, und spürte, wie meine Füße gegen etwas Metallenes stießen. Wie sie sich in der Dachrinne verfingen und gegen die äußere Wand der Rinne drückten. Ich spürte, wie die Rinne sich verzog und nachgab. Ich spürte, wie ich ein ganzes Stück weiter glitt, als ich eigentlich gleiten sollte, wie meine Füße jetzt weit über die Dachkante hinausragten.
Ich hörte, wie Tom sagte: »Bleib ganz ruhig da liegen, ich hole dich.«
Da erst bemerkte ich, dass mich irgendetwas hielt. Ich hob meinen Kopf ein wenig und sah an mir hinunter. Die Dachkante in beängstigender Nähe. Fast könnte ich sie mit den Händen berühren, die ganz weit vor mir ausgestreckt lagen wie riesige Flossen. Bremsflossen, dachte ich und versuchte, nicht zu lachen.
Man kann glücklich sein, wenn man weiß, dass das, was man spürt, vollkommen richtig ist.
Es gab nur zwei Möglichkeiten. Nicht mehr.
Die Rinne würde halten oder nicht.
Ich würde die Glocke berühren oder abstürzen.
Die Angst, die ich spürte, war richtig und angemessen, sie füllte mich vollkommen aus. Es war meine eigene Angst und nicht die eines Kindes viele Jahre zuvor in einem Krieg. Entscheidungen fällen, dachte ich. Ich kann es schaffen, wenn ich anfange, Entscheidungen zu fällen. Rationale Abwägungen zu treffen. Es ist Mathematik, dachte ich. Ja oder Nein. Null oder Eins. Nichts dazwischen.
Tom kam näher.
»Bleib, wo du bist«, sagte ich zu ihm.
Dann konzentrierte ich mich auf meinen Körper.
»Wie sieht die Rinne aus?«, sagte ich. »Wie weit ist sie weggebogen?«
»Weit«, sagte Tom.
Ich versuchte, meine Füße zu bewegen, und hörte ein metallenes Ächzen. Das erste Geräusch, das ich in den letzten Minuten vernommen hatte außer Toms Stimme.
Ich versuchte, mich an alles zu erinnern, das ich je gelesen hatte. Ich dachte an Winnetou. Aber, und das spürte ich deutlich, der lebte in seinem Buch und könnte mir hier nicht helfen.
Nicht versuchen, mich aufzurichten. Mein Gewicht auf so viel Fläche wie möglich zu verteilen. Welches Gewicht?, dachte ich und musste grinsen, denn dieses Mal, so dachte ich, wenn ich das hier schaffe, dann wird es sein Gutes gehabt haben, so leicht gewesen zu sein.
Ich schob mich, ohne die Hände vom Blech zu nehmen, Zentimeter für Zentimeter nach vorne. Ich stellte mir vor, es sei eine ebene Fläche. Keine Steigung.
Irgendwann hörte ich Tom ganz in meiner Nähe aufatmen.
Wir wissen beide nicht, wie lange ich gebraucht habe, bis wir uns aneinander festhalten konnten.
»Jetzt ist es leicht«, sagte Tom
Weitere Kostenlose Bücher