Suna
dabei!«, sagte ich.
»Du warst ein Kind!«, sagte Johannes.
»Soll ich dir erzählen, was ein Kind sieht?«, fragte ich, und resigniert sagte er: »Lieber nicht.«
Ich kam von meinem ersten längeren Spaziergang zurück, als uns die Nachricht von Srebrenica erreichte.
»Achttausend Tote«, sagte Johannes erschüttert.
Boris starrte ungläubig auf den Nachrichtensprecher und Tränen liefen ihm die Wangen herunter.
Ich hatte nicht zuhören wollen, wenn Magdalena ein- oder zweimal im Jahr günstig mit einer Busreisegruppe nach Slowenien gefahren war (»Da schießen sie nicht und unser Geld können die sehr gut gebrauchen«) und bei ihrer Rückkehr ihr Wissen mit mir teilen wollte.
Ich hatte es nicht ertragen, als sie später unablässig vom Balkankrieg erzählt hat, in Bildern, die immer mehr mit denen verschwammen, die ich aus den Erzählungen meiner Kindheit schon kannte.
»Du benutzt den Balkankrieg, um von deinem eigenen reden zu können«, sagte ich zu Magdalena, und da schwieg sie wochenlang über das Thema.
Und Zeljko hatte ebenfalls nichts davon wissen wollen.
»Worte machen Dinge wahr«, sagte er nur, als ob niemand schießen würde, wenn man es nicht aussprach.
Unendlich weit weg war der Krieg gewesen, unwirklich. Krieg in einem Land, in dem man die Füße ins Meer hängen lassen kann.
Jetzt lagen Tote in diesem Land, das mit mir verbunden war durch einen Namen. Das jetzt nicht mehr Jugoslawien hieß, sondern Bosnien-Herzegowina und Serbien und Kro atien und Slowenien, und die Toten und die Täter könnten meine Brüder und Schwestern, meine Onkel und Cousins sein.
Achttausend Tote, und ich wusste nicht, wer darunter war.
Ich wusste nicht einmal, wer es getan hat.
Da töteten Menschen einander, obwohl sie noch Nachbarn gewesen waren, als ich drei Sommer lang einen Jungen geküsst hatte und zweihundert Briefe geschrieben. Sie töteten einander wegen der Herkunft ihres Blutes oder ihres Gottes. Töteten einander, obwohl sie zusammen aufgewachsen waren wie Ruth und ich.
Stundenlang saß ich vor dem Fernseher und sah mir die Nachrichten an. Irma sagte: »Denk nicht so viel über Srebrenica nach, es ist nicht deine Geschichte.«
»Ist deine Geschichte eher meine?«, fragte ich bissig.
»Der Krieg auf dem Balkan ist ganz bestimmt nicht deiner. Nicht der deiner Mutter und nicht der deiner Familie.«
»Woher willst du das wissen? Weißt du, wie viele Brüder ich habe? Die wären alt genug, um eingezogen worden zu sein, oder nicht?«
»Wärest du betroffener über einen einzigen Toten, nur weil es dein unbekannter Bruder gewesen sein könnte?«, fragte Irma milde.
Aber das war es nicht allein. Mit Srebrenica musste ich einsehen, dass alle meine Versuche, mich mit stolzen Hinweisen, eigentlich ja überhaupt nicht deutsch zu sein zu schmücken, vergeblich, ja sogar vergiftet waren. Großmäulig hatte ich mich aus dem Setzkasten meiner Herkünfte bedient, mal dies, mal das verwendet – immer dann, wenn das Deutsche nicht getaugt hatte und ich herauskehren wollte, wie ungewöhnlich ich war.
Was hatte ich denn gewusst über das Land, das ich gerne als mein eigentliches Mutterland bezeichnet hatte, um mich ein kleines bisschen interessanter zu machen? Ich war nicht einmal hingefahren, als ich es gekonnt hätte, nicht einmal das. Du bemitleidest dich großformatig, Luisa, sagte ich zu mir selbst. Was bist du selbst jetzt noch für eine selbstgefällige Erscheinung. Nein, verteidigte ich mich, dieses Mal nicht. Dieses Mal ist es mir ernst, dieses Mal will ich es verstehen.
Auf meiner Geburtsurkunde stand Marina Lukic, unauslöschbar und für immer. So war ich geboren, aber war ich sie? Ich wusste doch noch nicht mal, ob ich jetzt serbisch oder kroatisch war und was der verdammte Unterschied ist.
War jetzt der Zeitpunkt gekommen, endgültig einen Schlussstrich unter die Fragen nach meiner Herkunft zu ziehen, oder war es im Gegenteil jetzt noch wichtiger, Gewissheit zu finden?
Für viele neuerliche Nächte schlief ich nicht. Ich lag im Bett und starrte die Decke an. Achttausend Menschen in Srebrenica. Brüder? Oder Onkel? Cousins? Und Schwestern, Cousinen, Tanten? Großeltern vielleicht? Und die Täter?
»Ist man eine Schwester, weil Eltern von irgendwoher stammen, Eltern, die man nie gesehen hat in seinem Leben?«, fragte ich Boris, der sah, was mich bewegte.
Wir saßen im Garten und rauchten seine Woherauchimmer-Zigaretten ohne Steuermarke und schwiegen oft lange.
»Ist man etwas, weil man bei
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