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Suna

Suna

Titel: Suna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ziefle Pia
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Eltern gelebt hat, die etwas sind?«, fuhr ich fort.
    »Was sind sie denn?«, fragte er.
    »Deutsch? Ein Mann und eine Frau? Kriegskinder? Söhne und Töchter? Evangelisch der eine, katholisch die andere?«
    Er dachte nach.
    »Sie sind Menschen, in erster Linie«, sagte er. »Es ist nicht notwendig, sie zu kategorisieren.«
    »Es ist doch unbestritten ein Unterschied, ob man, sagen wir, aus Bulgarien kommt oder aus Deutschland«, fragte ich ihn.
    »Inwiefern?«, fragte er.
    »Du denkst ganz anders, du bist anders«, sagte ich. »Du rauchst sogar anders.«
    Er lachte, denn das stimmte. Er hielt seine Zigarette so zwischen Daumen und Zeigefinger, dass die Glut auf seine Handinnenfläche zeigte. Es sah aus wie eine erleuchtete Höhle.
    »Ich denke, es spielt für einen Zeitraum eine Rolle. Wenn du jung bist. Wenn du nichts hast, das du selbst erreicht hast. Solange du nur einen Namen hast, der von deinen Eltern stammt. Solange ist es von einer gewissen Wichtigkeit zu wissen, wo man herkommt«, sagte er.
    »Welchen Namen meinst du denn? Ich habe eine Menge Namen. Welcher davon gilt?«, fragte ich
    Er lachte und gab mir recht. Aber ich war noch nicht fertig mit meinem Gedanken.
    »Wo kann ich hin, wenn ich nicht weiß, wo ich herkomme, und komme ich her von einem Ort, den ich nicht kenne? Komme ich aus der deutschen Geschichte und alter Schuld, oder bin ich Serbin und voll mit neuer? Serbin oder Kroatin? Macht ein Wort einen Unterschied?«
    »Du wirst deine eigene Spur durch dein Leben ziehen, wenn es dir gelingt, die Seile zu durchschneiden, die dich binden«, sagte Boris. »Irgendwann wirst du wissen wollen, wer dich geboren hat und warum du nicht bei deiner Mutter bleiben konntest.«
    »Widersprichst du dir nicht selbst, wenn du sagst, es ist einerseits nicht für immer bestimmend, wo man herkommt, und mich andererseits aufforderst, mir Klarheit über meine Mutter zu verschaffen?«
    »Du wehrst dich mit allen Mitteln«, sagte er lachend, »aber es sind die Mittel des Verstandes. Weißt du, mit etwas Glück bei der ganzen Sache wird sich herausstellen, dass für manches, was dir widerfahren ist, Liebe die Motivation war. Auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht grausam aussieht.«
    Er erhob sich, mit dem Hinweis auf die kühler werdende Abendluft, den schlechten Rücken und sein Alter.
    »Und außerdem«, fügte er hinzu, »außerdem kann es irgendwann auch zu spät sein.«
    Frieden für Bosnien wurde schließlich »auf einem Bauernhof in Amerika« geschlossen, so sagte Boris, und ich entschied, es doch mit einem Studium zu versuchen. Alle sprachen mit leuchtenden Augen von Berlin, aber für mich zählte nur, dass es weit weg war von allem. Ich schrieb mich an der Uni für Geschichte ein, um irgendwo anzufangen, und war beschäftigt mit den Notwendigkeiten. Ich stürzte mich hinein in die Namenlosigkeit der großen Stadt und gleichzeitig in die Körperlosigkeit des Netzes, wo man schreiben, aber nicht reden musste. Anonyme Chats und Mails, im Minutentakt, was ein Rausch sein kann, nur Worte und Wirkung. Dort sah man einander nicht und musste nicht auf körperliche Distanz achten, geriet nie betrunken in Situationen, in denen man ein Heranrücken nicht beantworten konnte und nicht wagte, ein Nein zu setzen. Dort war ich inkognito und sicher.
    In den Nachrichten berichteten sie jetzt von der UCK im Kosovo, aber ich war in Berlin. Ich bin weit weg, dachte ich. Serbische Kommilitonen sahen das anders, sie luden uns zu Informationsabenden ein, während die albanischen Studenten (zwei Stück) genau dasselbe taten. Ich ging zu beiden Gesprächskreisen und lernte Jahreszahlen und die Bezeichnungen von Partisaneneinheiten. Und suchte heim lich in den Berichten nach dem Namen meiner Familie. Aber längst schon konnte es zu spät sein, und ich würde vielleicht vor einer Reihe Gräber stehen müssen. Womöglich wäre alles, was mir von meiner Mutter geblieben war, ein metallenes Kreuz auf einem Dorffriedhof.
    Manchmal konnte ich nicht schlafen und meinte, einen alten Mann in meiner Küche sitzen zu sehen, der aussah wie aus Tausendundeiner Nacht. Dann saß ich zitternd vor Kälte hellwach auf meinem anderen Stuhl und trank Kaffee mit Wodka, rauchte eine Zigarette nach der anderen und verdrängte das Gefühl, mich um etwas kümmern zu müssen, damit die Schlaflosigkeit aufhört. In diesen Nächten schrieb ich meine besten Texte.
    Nachmittags und an fast allen Wochenenden saß ich in der Bibliothek, nachts probierte ich es mit

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