Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
sieben Stunden Schlaf. Wenn er im Herbst wieder aus dem Gästezimmer zu ihr übersiedelt, werden es nur noch vier sein, und auch die eher unruhig.
Irgendwann wird er nicht mehr ins Schlafzimmer zurückkehren. Und obwohl sie es ihm nicht auf die Nase bindet, wird sie froh darüber sein. Es würde seine Gefühle verletzen, wenn sie es offen ausspräche, und das fällt ihr noch immer schwer. Ja, so viel ist noch von der Liebe zwischen ihnen übrig geblieben, zumindest was sie angeht.
Seufzend greift sie in den Topf Wasser in der Spüle und tastet darin herum. »Nicht so schlecht«, sagt sie.
Gerade als sie (wieder einmal) darüber nachdenkt, dass das Leben keine Überraschungen und die Ehe keine unausgeloteten Tiefen mehr bereithält, sagt er in merkwürdig beiläufigem Ton: »Sei froh, dass du letzte Nacht nicht mit mir in einem Zimmer geschlafen hast, Jax. Ich hatte einen schlechten Traum. Bin sogar schreiend aufgewacht.«
Sie ist verblüfft. Wie lang ist es her, dass er sie Jax genannt hat statt Janet oder Jan? Die Abkürzung Jan hasst sie insgeheim, weil sie dabei immer an ihre Kindheit und die zuckersüße Schauspielerin in Lassie denken muss, an den kleinen Jungen (Timmy hieß er, ja genau), der ständig in einen Brunnen fiel, von einer Schlange gebissen wurde oder unter einem Felsen festsaß, und an diese Eltern, denen nichts Besseres einfiel als ihren Sohn einem bekloppten Collie anzuvertrauen.
Sie wendet sich wieder zu ihm um und vergisst den Topf mit dem letzten Ei darin und dem Wasser, das nur noch lauwarm ist. Er hatte einen schlechten Traum? Harvey? Angestrengt versucht sie sich zu erinnern, wann Harvey zum letzten Mal irgendwas geträumt hat, aber ihr fällt nichts ein. Nur eine vage Erinnerung an die Zeit, als er um sie warb – Harvey mit einem Spruch wie: »Ich träume von dir«, und sie damals noch so jung, dass sie das nicht abgegriffen, sondern süß fand.
»Was?«
»Bin schreiend aufgewacht«, sagt er. »Hast du mich nicht gehört?«
»Nein.« Noch immer starrt sie ihn an. Fragt sich, ob er sie auf den Arm nimmt. Aber Harvey neigt nicht zu Witzen. Seine Vorstellung von Humor beschränkt sich auf Anekdoten über seine Zeit bei der Army. Er gibt sie gern beim Abendessen zum Besten, und sie hat jede einzelne schon mindestens hundert Mal gehört.
»Ich habe irgendwelche Wörter geschrien, konnte sie aber nicht richtig aussprechen. Es war wie … ich weiß nicht … ich konnte den Mund nicht richtig bewegen. Es hat sich angehört, als hätte ich einen Schlag gehabt. Und meine Stimme war tiefer. Überhaupt nicht wie meine echte Stimme.« Er hält inne. »Ich habe mich gehört und mich gezwungen, still zu sein.Aber ich habe am ganzen Leib gezittert, und ich musste eine Weile das Licht anmachen. Ich wollte pinkeln, konnte aber nicht. Eigentlich kann ich in letzter Zeit sonst immer pinkeln – ein bisschen wenigstens -, aber heute Morgen um zwei Uhr siebenundvierzig ging gar nichts.« In seinem Sonnenstrahl sitzt er da. Sie sieht tanzende Staubpartikel im Licht, die ihn wie ein Heiligenschein umflirren. »Was hast du denn geträumt?« Ein seltsames Gefühl beschleicht sie: Zum ersten Mal seit vielleicht fünf Jahren – ja, seit sie damals bis Mitternacht darüber diskutierten, ob sie die Motorola-Aktien behalten oder abstoßen sollten (sie verkauften sie schließlich) – interessiert sie sich für etwas, was er zu sagen hat. »Ich weiß gar nicht, ob ich darüber reden möchte.« Eine für ihn völlig untypische Scheu liegt in seiner Stimme. Er greift nach der Pfeffermühle und fängt an, sie von Hand zu Hand zu werfen. »Es heißt, wenn man seine Träume erzählt, werden sie nicht wahr«, sagt sie zu ihm. Noch etwas Merkwürdiges fällt ihr auf: Auf einmal wirkt Harvey auf sie so präsent wie schon seit Jahren nicht mehr. Sogar sein Schatten an der Wand über dem Toaster hat auf einmal etwas viel Plastischeres. Er sieht aus, als wäre er wichtig, sinniert sie. Aber warum nur? Warum kommt mir das Leben auf einmal nicht mehr dünn vor, sondern dicht? Es ist ein Sommermorgen Ende Juni.Wir sind in Connecticut. Bald wird einer von uns die Zeitung holen, und wir werden sie wie Gallien in drei Teile aufteilen. »Wirklich?« Mit hochgezogenen Augenbrauen überlegt er (sie muss sie ihm wieder mal auszupfen, er wird schon wieder ganz struppig, und er selbst merkt es ja nie), während die Pfeffermühle von Hand zu Hand fliegt. Sie würde ihn gern bitten, damit aufzuhören, weil es sie nervös macht (so wie
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