Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
Bild von Carlos’ Garage.
IV. Mann mit Schusswaffe
Etwas so Lebensechtes hatte er nicht mehr geträumt, seit ihn im Alter von vierzehn Jahren drei, vier völlig geniale feuchte Träume erstmals mit seiner Männlichkeit konfrontierten. Es war der mit Abstand entsetzlichste Traum aller Zeiten – nichts kam dem auch nur entfernt nahe. Was ihn so entsetzlich machte, war das Gefühl drohenden Unheils, das den Traum wie ein roter Faden durchzog. Und das, obwohl der Traum seltsam unwirklich war: Sifkitz wusste, dass er träumte, konnte dem jedoch nicht entfliehen. Er hatte das Gefühl, in dicke Gaze gehüllt zu sein. Er wusste, dass sein Bett nicht weit war, aber er kam einfach nicht zu dem Richard Sifkitz durch, der sich da in seinen Boxershorts zitternd und schwitzend hin und her warf.
Er sah ein Kissen und ein weißes Telefon mit einem Riss im Gehäuse. Dann einen Flur mit Bildern, von denen er wusste, dass seine Frau und seine drei Töchter darauf abgebildet waren. Dann eine Küche mit einer Mikrowelle, auf der die Ziffern 4:16 blinkten. Eine Schale mit Bananen (die ihn mit Trauer und Entsetzen erfüllten) auf der Resopaltheke. Ein überdachter Durchgang. Und dort lag, die Schnauze auf den Pfoten, Pepe der Hund, und als Sifkitz an ihm vorbeiging, hob er nicht einmal den Kopf, sondern schaute ihn nur aus großen Augen an, die sich in grausige, blutunterlaufene weiße Halbmonde verwandelten. Da fing Sifkitz im Traum zu weinen an, weil er begriffen hatte, dass alles verloren war.
Jetzt war er in der Garage. Er konnte Öl riechen. Und getrocknetes Mariengras. In einer Ecke stand gleich einem vorstädtischen Gott der Rasenmäher. Auf dem Arbeitstisch thronte der Schraubstock – alt und schwarz und mit winzigen Holzsplittern übersät. Daneben ein Schränkchen. Die Schlittschuhe seiner Töchter lagen auf dem Boden, die Schnürsenkel so weiß wie Vanilleeiscreme. Sein Werkzeug hing ordentlich sortiert an der Wand. Der größte Teil davon war für die Gartenarbeit bestimmt – er arbeitete für sein Leben gern, der gute
(Carlos. Ich bin Carlos.)
Auf dem obersten Bord, weit außerhalb der Reichweite der Mädchen, lag ein Jagdgewehr, das er seit Jahren nicht mehr benutzte, ja, das er schon fast vergessen hatte, und eine Schachtel mit Patronen, die so schwarz angelaufen waren, dass man das Wort Winchester darauf kaum noch lesen konnte, aber man konnte es lesen, gerade so, und in dem Moment begriff Sifkitz, dass er sich im Kopf eines potenziellen Selbstmörders befand. Er gab sich alle Mühe, Carlos entweder davon abzuhalten, sich umzubringen, oder ihm zu entfliehen, aber keines davon gelang ihm, obwohl er ahnte, wie nahe er seinem Bett war, direkt auf der anderen Seite der Gaze, mit der er von Kopf bis Fuß eingewickelt war.
Jetzt stand er wieder vor dem Schraubstock, das Jagdgewehr war darin eingespannt, die Schachtel mit den Patronen lag griffbereit auf dem Arbeitstisch, und in der Hand hielt er die Eisensäge, er war dabei, den Lauf der Flinte abzusägen, weil der ihm bei dem, was er tun musste, nur im Weg war, und als er die Schachtel öffnete, glotzten ihm zwei Dutzend der fetten, grünen Scheißdinger entgegen, und als Carlos die Waffe zuschnappen ließ, war kein leises klick!, sondern ein lautes KLACK! zu hören, und als er sie sich in den Mund steckte, schmeckte er Öl auf der Zunge und Staub auf der Innenseite seiner Wange und auf den Zähnen, und sein Rücken schmerzte, wurde das denn nie besser, LMAA, das hatten sie als Jugendliche immer auf leerstehende Häuser getaggt (und manchmal auch auf welche, die nicht leerstanden), damals als er mit den Deacons noch Poughkeepsie unsicher machte, und das stand für LECK MICH AM ARSCH, und genau so schmerzte sein Rücken, aber jetzt, wo er entlassen worden war, hatte er keine Ansprüche auf Sozialleistungen mehr, Jimmy Berkowitz konnte sich den Arbeitgeberanteil nicht mehr leisten, also konnte sich Carlos Martinez keine Medikamente mehr leisten, die die Schmerzen etwas erträglicher machten, konnte sich den Chiropraktiker nicht mehr leisten, der die Schmerzen etwas erträglicher machte, und die Raten fürs Haus – ay, caramba, sagten sie früher immer, im Spaß, aber ihm war der Spaß eindeutig vergangen, ay, caramba, sie würden das Haus verlieren, weniger als fünf Jahre von der Ziellinie entfernt, sí sí, señor, und daran war nur dieses Arschloch Sifkitz schuld, Sifkitz mit seinem beschissenen Straßeninstandhaltungshobby, und die Rundung des Abzugs unter seinem
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