Sunset - King, S: Sunset - Just After Sunset
Finger war wie ein Halbmond, wie der entsetzliche Halbmond der starrenden Hundeaugen.
In dem Moment wachte Sifkitz schluchzend und zitternd auf, die Beine noch im Bett, den Kopf über der Kante – die Haare hingen ihm bis auf den Boden hinab. Er kroch auf allen vieren durch das Schlafzimmer und dann weiter durch das Wohn- und Arbeitszimmer zur Staffelei, die unter dem Dachfenster stand. Erst auf der Hälfte des Weges stellte er fest, dass er wieder aufrecht gehen konnte.
Das Bild von der leeren Straße stand noch dort, die bessere und vollständigere Version der Projektion an der Kellerwand. Ohne einen zweiten Blick warf er es beiseite und stellte ein sechzig mal sechzig großes Stück Presspappe auf die Staffelei. Er nahm das nächstbeste Schreibgerät (in diesem Fall einen Tintenroller von Faber-Castell) und fing an zu zeichnen. Er zeichnete Stunde um Stunde und weinte dabei die ganze Zeit. Irgendwann musste er pinkeln (daran konnte er sich nur vage erinnern) und spürte, wie es ihm heiß das Bein hinunterlief. Die Tränen nahmen erst ein Ende, als das Bild fertig war. Als er wieder klar sehen konnte, trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk.
Er hatte Carlos’ Garage gezeichnet, wie er sie an jenem Oktobernachmittag gesehen hatte. Der Hund – Pepe – stand mit aufgerichteten Ohren davor. Er war von dem Gewehrschuss angelockt worden. Von Carlos war auf dem Bild nichts zu sehen, aber Sifkitz wusste ganz genau, wo die Leiche lag, und zwar links, neben dem Arbeitstisch mit dem Schraubstock. Wenn seine Frau zu Hause war, hatte sie den Schuss bestimmt gehört. Wenn nicht – möglicherweise war sie einkaufen oder bei der Arbeit -, mochten ein, zwei Stunden vergehen, bevor sie nach Hause kam und ihn fand.
Unter das Bild hatte er MANN MIT SCHUSSWAFFE gekritzelt. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, das getan zu haben, aber es war seine Schrift, und der Titel passte zum Bild. Zwar war darauf weder ein Mann noch eine Schusswaffe zu sehen, aber es war der richtige Titel.
Sifkitz ging zum Sofa hinüber, setzte sich und stützte den Kopf in die Hände. Seine rechte Hand tat ihm weh – mit einem so feinen Stift zeichnete er sonst nie. Er versuchte sich einzureden, dass er nur schlecht geträumt hatte, dass das Bild nur ein Ausfluss seines Traums gewesen war. Einen Carlos hatte es nie gegeben, und auch keine Lipide Abbau & Co., beide hatte er sich nur eingebildet, weil ihm Dr. Bradys unbedachte Metapher nicht mehr aus dem Kopf ging.
Aber Träume verblassten; diese Bilder dagegen -das Telefon mit dem Riss im Gehäuse, die Mikrowelle, die Schale mit den Bananen, der Hundeblick – standen ihm noch immer völlig klar vor Augen. Klarer sogar.
Eines ist sicher, sagte er sich.Von dem verdammten Hometrainer würde er die Finger lassen. Das kam dem Wahnsinn doch etwas sehr nahe.Wenn er so weitermachte, würde er sich noch ein Ohr abschneiden und es mit der Post verschicken, nicht an seine Freundin (er hatte keine), sondern an Dr. Brady, der für all das verantwortlich war, ganz eindeutig.
»Ich rühr das Teil nicht mehr an«, sagte er, noch immer den Kopf in die Hände gestützt. »Vielleicht sollte ich mich bei einem Fitnessstudio anmelden, irgend so was, aber von dem verdammten Hometrainer lass ich die Finger.«
Aber er meldete sich bei keinem Fitnessstudio an, und nach einer Woche ohne Sport (er ging spazieren, aber das war nicht dasselbe – auf den Gehsteigen waren zu viele Leute unterwegs, er sehnte sich nach der Ruhe auf der Straße nach Herkimer) hielt er es nicht mehr aus. Bei seinem aktuellen Projekt – einem Gemälde à la Norman Rockwell für einen Hersteller von Mais-Chips – war er in Rückstand geraten, und sein Agent und der Kerl, der bei der Werbeagentur für diesen Auftrag zuständig war, hatten beide bei ihm angerufen. Das war ihm noch nie passiert.
Was noch schlimmer war – er konnte nicht schlafen.
Der Traum stand ihm nicht mehr ganz so eindringlich vor Augen, und er war zu dem Schluss gelangt, dass es nur das Bild von Carlos’ Garage war, das ihn aus einer Ecke des Zimmers unverwandt anstarrte und ihm immerzu alles wieder ins Gedächtnis zurückrief. Er konnte sich nicht dazu bringen, das Bild zu vernichten (dafür war es einfach zu gut), aber er drehte es um. Sollte es doch die Wand anglotzen.
An jenem Nachmittag fuhr er mit dem Aufzug in den Keller und stieg auf den Hometrainer. Kaum hatte er den Blick auf die Wandprojektion gerichtet, verwandelte sich der Hometrainer in
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