Super-Brain - angewandte Neurowissenschaften gegen Alzheimer, Depression, Übergewicht und Angst
furchtbar schüchtern, ziemlich unsportlich und ungelenk– ganz im Gegensatz zu seiner Zwillingsschwester Anne, erkennbar von klein auf eine geborene Sportlerin. Als einige Raufbolde es in der Schule auf Rudy abgesehen hatten, trug Anne an seiner Stelle die Raufereien mit den Jungs aus. Rudy fand es überaus frustrierend, dass ein Mädchen ihn verteidigte, und ausgerechnet eines, das stärker war…
Noch schwerer ins Gewicht fiel allerdings die frustrierte Kampf-oder-Flucht-Reaktion, denn er agierte hier ja weder im einen noch im anderen Sinn. Zu kneifen und wegzurennen tut dem Stolz eines kleinen Kindes Abbruch, vermöbelt zu werden ist demütigend. Jedenfalls wurde auf eine etwas sonderbare Weise damals auf dem Schulhof, unter Rudys Beteiligung, eine evolutionäre Grundproblematik ein weiteres Mal ausgefochten. Die frühen Menschen mussten herausfinden, wie sie zusammenleben konnten. Hätten sie bei jedem Adrenalinschub, der bei Ihnen einen Fluchtimpuls auslöste, das Weite gesucht, wie hätte sich dann eine Gesellschaft formieren können? Und wenn sie einander bei jeder Gelegenheit, bei der das Adrenalin sein anderes, kampfeslustiges Gesicht zeigt, bis aufs Blut bekämpft hätten, wäre das ebenso wenig ein konstruktiver Beitrag zum Aufbau eines sozialen Gefüges gewesen.
Auch Rudy musste damals einen Weg finden, dieses soziale Dilemma zu lösen. Wenn andere Jungs es auf ihn abgesehen hatten, besann er sich nun mehr und mehr darauf, seinen Verstand zu nutzen.
Zuerst half ihm vor allem Taktik aus der Klemme. Eines Tages, Rudy ging damals in die dritte Klasse, provozierte einer der Rabauken eine Auseinandersetzung. Von hinten kommend sprang er auf Rudys Rücken und hämmerte mit den Fäusten auf ihn ein. Anne hielt sich raus und beobachtete einfach das Geschehen aus einiger Entfernung, um notfalls doch dazwischenzugehen. Rudy aber geriet weder in Panik noch versuchte er den Jungen abzuwerfen. Da kam ihm eine Idee. Hinter ihnen stand, das hatte er noch im Blick, eine sehr robuste Eiche. Nun lief er, so schnell er konnte, rückwärts auf die Eiche zu und presste seinen Widersacher mit Schwung gegen den Baum. Dem anderen Jungen blieb die Luft weg, er prallte auf den gefrorenen Boden, klappte zusammen wie ein Taschenmesser und war erledigt.
Damit war die Sache zwischen den beiden ein für alle Mal geklärt, denn die Erinnerung an dieses Geschehnis hinterließ bei dem Angreifer einen bleibenden Eindruck. Er hat Rudy nie wieder behelligt. Anders ausgedrückt: Die für Instinkte und Emotionen zuständigen Bereiche des Gehirns haben Rudy zwar Warnmeldungen von hoher Dringlichkeit geschickt. Dessen ungeachtet hat der für das Denkvermögen zuständige Teil des Gehirns nun aber erstmals eine Taktik jenseits von Kampf und Flucht entwickelt.
Man benötigt nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, dass die frühen Menschen ähnliche Erfahrungen und Entdeckungen gemacht haben. Sobald jemand vor einem steht, der zu denken anfängt, muss man es ihm gleichtun. Taktische Überlegungen zur Kriegsführung münden unweigerlich in taktische Überlegungen zur Beendigung des Krieges. Aus der Notwendigkeit, am Feuer zu sitzen, um die Früchte des Jagens und Sammelns miteinander zu teilen, ergeben sich gute Gründe für soziales Verhalten.
Außenreize waren allerdings nicht der einzige Auslöser für diesen sich in den Verstandeskräften ausdrückenden Quantensprung der Evolution: Jeder Zelle unseres Körpers wohnt Intelligenz inne. Die Bedeutung und die weitreichenden Konsequenzen der zellulären Intelligenz können wir kaum hoch genug einstufen: Bei all den Dingen, die unseren Körper zu dem gemacht haben, was er heute ist, hat diese Form von Intelligenz eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Zellen leben zusammen, bilden eine Kooperationsgemeinschaft, haben wechselseitig ein Gespür füreinander und tauschen unentwegt Informationen aus. Wenn sich eine einzelne Zelle solch einem Gemeinschaftssinn zuwider verhält, bösartig wird, schaltet sich das Immunsystem ein. Schlägt dessen Mission fehl, kann Krebs entstehen– die extremste Form von gemeinschaftswidrigem Verhalten im Körper.
In gewisser Weise lässt sich also durchaus sagen, dass das Großhirn einfach mit dem gleichgezogen hat, was jede einzelne Zelle längst zu tun versteht. Wie dem auch sei, der evolutionäre Sprung zu dem mit Verstandeskräften begabten Gehirn hat jedenfalls zu einer Vertausendfachung all der Möglichkeiten geführt, die das menschliche Dasein uns
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