Super Sad True Love Story
lernen. Für mich hießdas vor allem, dass ich das Widerstreben des Einzelkinds überwinden musste, sich vollkommen auf die Welt anderer Menschen einzustellen. Seit ich zurück bin, habe ich meine Kumpel nicht gesehen, weil sie wie alle, die noch in New York arbeiten, völlig wahnwitzige Arbeitszeiten haben, aber schließlich fassten wir den Plan, uns im «Cervix» zu treffen, einer neuerdings hippen Bar im neuerdings hippen Staten Island.
Ehe ich die 70 Quadratmeter meiner Wohnung verließ, gab ich den Namen meines ältesten Medienfreundes, Noah Weinberg, in meinen Äppärät ein und erfuhr, dass er unser Wiedersehen live auf seinem GlobalTeens-Stream «The Noah Weinberg Show!» übertragen wollte, was mich zuerst nervös machte, aber andererseits muss ich mich genau an solche Dinge ja gewöhnen, wenn ich es in dieser Welt zu etwas bringen will. Also zog ich schmerzhaft enge Jeans und ein flammend rotes Hemd an, auf dessen Brustpartie ein gestickter Strauß weißer Rosen prangte. Ich wünschte, Eunice wäre da, um mir zu sagen, ob das meinem Alter angemessen war. Für natürliche Grenzen scheint sie ein gutes Gespür zu haben.
Unten im Foyer bemerkte ich die Blaulichter eines Rettungswagens stumm auf der Grand Street blinken, was auf einen weiteren Todesfall im Gebäude hindeutete, eine weitere Einladung, in Teaneck oder New Rochelle im Haus eines trauernden Sohnes Schiwa zu sitzen, eine weitere Wohnung, die auf der Pinnwand der Eigentümergemeinschaft zum Verkauf angeschlagen war. Ein einsamer Rollstuhl stand im antiseptischen cremefarbenen 1950er-Jahre-Dekor des Foyers. Hier in der Natürlich Gewachsenen Ruhestands-Gemeinschaft ist Immobilität ein Dauerthema, ich stellte mich also auf eine generationenübergreifende Begegnung ein, rechnete damit, den altenBurschen in die frühabendliche Sonne hinausschieben und ein paar Brocken vom Jiddisch meiner Großmutter ausgraben zu müssen.
Ich wich zurück. Im Rollstuhl saß eine Leiche, nachlässig in einen undurchsichtigen Plastiksack gehüllt, der Kopf gekrönt von einer spitz aufragenden Lufttasche. Der Leichensack klebte fest an schmalen Männerhüften, und der Verstorbene war leicht vornübergebeugt, wie beim vergeblichen christlichen Gebet.
Empörend! Wo waren seine Pfleger? Wo die Rettungssanitäter? Ich wollte mich hinknien und, entgegen meinen unmittelbaren Impulsen, dem ehemaligen Lebewesen, das in seiner widerlichen Plastikhülle erkaltete, Trost schenken. Ich betrachtete die kleine, über dem Kopf des Toten eingeschlossene Luftblase, als wäre sie sein sichtbar gemachter letzter Atemzug, und spürte Brechreiz aus dem Bauch aufsteigen.
Schwindelig ging ich hinaus in die stickige Junihitze, auf die Sanitäter zu, die beide neben ihrem blinkenden Fahrzeug mit der Aufschrift «Amerikanische Medezinische [sic] Versorgung» rauchten. «Bei mir im Foyer sitzt ein Toter», sagte ich zu ihnen. «In einem Scheißrollstuhl. Habt ihr einfach da stehenlassen. Was von Respekt gehört, Jungs?»
Ihre Gesichter waren unerheblich, beschädigt, irgendwie lateinamerikanisch. «Nächster Verwandter?», fragte einer und nickte vage in meine Richtung.
«Spielt das eine Rolle?»
«Er will ja nirgendwo hin, Sir.»
«Es ist widerwärtig», sagte ich. «Ist bloß der Tod.»
«Trifft jeden, Paco», fügte der andere hinzu.
Ich versuchte, ein wutverzerrtes Gesicht zu machen, doch man sagt mir immer, dabei sähe ich wie eine wahnsinnigeAlte aus. «Ich rede davon, dass ihr
raucht
», sagte ich, doch mein Vorwurf erstarb rasch in der feuchten Luft.
Nichts auf der Grand Street konnte mir Trost bieten. Nichts veranlasste mich zu feiern, was ich hatte (Punkt 6). Weder das pralle inwendige Leben der spärlich bekleideten Latinokinder noch der Geruch des frisch zubereiteten
arroz con pollo
, der aus dem altehrwürdigen Castillo del Jagua II wehte. Ich rief noch einmal «Die Noah Weinberg Show!» auf und hörte, wie mein Freund sich über die jüngste Niederlage unserer Armee in Venezuela lustig machte, doch ich konnte den komplizierten Einzelheiten nicht folgen. Ciudad Bolívar, der Orinoco, durchschossene Panzerung, ein Blackhawk am Boden – was sollte mir das alles sagen, da ich jetzt ein mögliches Ende meines Lebens vor mir sah: allein, in einem Sack, in meiner eigenen Wohnanlage, vornübergebeugt in einem Rollstuhl, zu einem Gott betend, an den ich nie geglaubt hatte? Just in dem Moment ging ich an der ockerfarbenen Großspurigkeit von St. Mary’s vorbei und sah eine
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