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Supernova

Supernova

Titel: Supernova Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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hatte Rachel damit verbracht, George Chos Hintergrundmaterial
über die dem Diplomatischen Dienst bekannten Geheimoperationen
der Übermenschen durchzugehen. Sie hatte sich dabei gefragt,
warum, zum Teufel, sie nicht schon früher davon erfahren hatte. Die Galaxie ist groß, aber nicht so groß, dass man es
ignorieren kann, wenn dort solche – wie hatte Rosa es
genannt? – solche Ballermänner anfingen, Amok zu laufen. Auf einen bloßen Verdacht hin zu ermitteln, war riskant; es
konnte einem den Blick dafür verstellen, wer die wirklichen
Drahtzieher waren. Aber jetzt, nachdem sie das von Tranh
zusammengestellte Dossier gelesen hatte, war Rachel aus dem Bauch
heraus fest davon überzeugt, dass die Übermenschen
irgendwie bei der Sache mitmischten. Das Ganze roch nach einer
diplomatischen Geheimmission. Und diese Leute waren eindeutig so
verrückt und skrupellos, dass ihnen eine solche Tat zuzutrauen
war. Es stellte sich nur die Frage nach dem Motiv.
    »Warum, zum Teufel, haben Sie diese Möglichkeit nie
erwähnt?«, fragte sie Tranh, als sie das Material halbwegs
durchgegangen war und anschließend nochmals die erste Seite
gelesen hatte, weil sie nicht fassen konnte, was da stand.
    Tranh, vom Druck der Beschleunigung schwer mitgenommen, zuckte
abwehrend mit den Schultern. »George hat gesagt, wir sollten es
besser unter Verschluss halten. Um die Ermittlungen nicht durch
vorgefertigte Meinungen in eine bestimmte Richtung zu
lenken.«
    »Vorgefertigte Meinungen – ha!« Rachel wandte den
Blick ab.
    Trotz ihrer heftigen Abneigung gegen Museen hatte Rachel ein
überentwickeltes Gespür für historische Abläufe.
Dank der Entwicklung billiger Methoden zur Lebensverlängerung
war ihre Generation eine der ersten gewesen, die so viel Geschichte
erlebt und durchlebt hatte, dass sie den Menschen schwer verdaulich
im Magen lag. Sie selbst war in einer hinterwäldlerischen
religiösen Gemeinschaft aufgewachsen, für die jede
annehmbare gesellschaftliche Entwicklung Mitte des zwanzigsten
Jahrhunderts aufgehört hatte. Als Erwachsene hatte sie die
ersten Jahrzehnte als geplagte, nach außen hin jedoch
pflichtbewusste Ehefrau ohne jedes Eigenleben verbracht. Jahre
später aber hatte sie unvermittelt den Sprung über den Zaun
gewagt, um die Welt mit ihren sinnlichen, teuflischen Verlockungen
mit eigenen Augen zu entdecken. Im Lauf der Zeit war sie zu der
festen Überzeugung gelangt, dass Geschichte in nichts anderem
als einer Reihe von Zufällen bestehe. Gott war entweder
abwesend, oder er spielte sehr ausgeklügelte Streiche. (Das
Eschaton zählte nicht, da es ausdrücklich abgestritten
hatte, ein göttliches Wesen zu sein.) Und die Saat des
Bösen ging fast immer in den Fußstapfen solcher Menschen
auf, die wussten, wie alle anderen sich zu verhalten hatten, und den
Drang verspürten, es ihnen um die Ohren zu hauen. Als Rachel auf
die Welt gekommen war, hatten noch Menschen gelebt, die sich an den
Kalten Krieg erinnern konnten, an jenes düstere ideologische
Ungeheuer, das auf einen Atomkrieg zusteuerte.
    Wenn sie an die Übermenschen dachte, klingelte etwas bei ihr,
und es klingelte auf sehr unangenehme Art. Solche Dinge, wie die
Übermenschen sie taten, waren ihr schon früher begegnet. Warum ist denen noch niemand auf die Zehen getreten?, fragte
sie sich.
    Während Rachel noch darüber nachdachte, war ein
Läuten zu hören: Die Fahrstuhlkabine wurde langsamer und
drehte sich einen Augenblick um hundertachtzig Grad, worauf sich auch
die Mägen der Passagiere umdrehten. Als das Tempo wieder
schneller wurde, lastete der Druck wie Blei auf ihr. »In rund
neunzehn Minuten erreichen wir den Flugsteig drei«, meldete der
Kabinensteward. »Zwei Minuten vor der Ankunft drosseln wir auf
ein g; es besteht dann auch Gelegenheit, die Waschräume
der Kabine zu benutzen.«
    Tranh sah sie an. »Sind Sie bereit?«, grunzte er.
    »Ja«, erwiderte sie, ohne es weiter auszuführen.
Tranh war nervös und zeigte es auch. »Bin mit der
Lektüre durch.« Als sie auf ihr speziell gesichertes
Notebook deutete, bemühte er sich um ein zustimmendes Nicken
– seiner Grimasse nach zu urteilen, empfand er ihre Bemerkung
jedoch als unklug und war peinlich berührt. Vorhin hatte Rachel
versucht, das Notebook mit beiden Händen zu halten, was auch
funktionierte, nur dass ihr die Arme einschlafen wollten, wenn sie
diese Haltung mehr als ein paar Minuten einnahm. Für ein
Gerät, das in ihre Brieftasche passte, war es bemerkenswert
schwer, so schwer wie Blei.

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