Survive
aufschneiden«, rufe ich, in der Befürchtung, dass er es noch nicht bemerkt hat.
»Ich weiß, aber ich habe keine andere Wahl.«
Die einsetzende Abenddämmerung taucht den Himmel in rötlichen Schein, und weil wir von hohen Bergen umgeben sind und weniger Licht zu uns dringt, dürften wir in weniger als einer Stunde in totale Finsternis gehüllt sein. Was dann?
»Binde dir das Seil um die Hüfte. Dann schneide den Gurt durch. Ich werde mich hier sichern, und dann kannst du mit meiner Hilfe am Seil hochsteigen.« Das bin ich, die zu ihm hinabruft. Ich bin nicht sicher, wie mir diese Idee zugeflogen ist – und woher ich meinen Wagemut und meine Zuversicht nehme.
Er sieht mich einen Moment lang an und trifft dann eine Entscheidung.
»Such dir einen Baum als Halt, gegen den du dich stemmen kannst!«, ruft er herauf.
Ich suche mit den Augen die Umgebung ab und entscheide mich für eine Kiefer, die recht nahe an der Felskante steht.
Paul legt das Seil mit einer Hand um seinen Körper, und es dauert länger, als man vielleicht erwarten würde. Er bindet einen großen Knoten, der ihn unter den Achseln fest umschließt. Dann ruft er zu mir herauf: »He, ich werde das Ding jetzt durchschneiden. Bist du bereit?«
»Nein, warte!«
Ich knüpfe mir das Seil um die Taille, gehe vielleicht drei Meter von der Felskante zurück und krabbele um den kleinen Baum herum, dessen Äste etwa ein, zwei Meter weit aus dem Schnee herausragen. Ich achte sorgfältig darauf, dass sich das Seil nicht in den Zweigen verheddert, sodass es vielleicht durchscheuern oder zerschnitten werden könnte, versichere mich aber zugleich, dass es fest um den Baum gewickelt ist. Ich wünschte nur, ich hätte genug Seil, um das Ganze zweimal zu machen. Dann stehe ich auf und gehe zum Felsrand, wobei ich das Seil hinter mir herziehe. Ich recke den Daumen nach oben. Paul nickt und setzt dazu an, mit dem Messer am Gurt zu sägen.
Sofort beginnt der Gurt zu zerfasern, und der Schulterriemen reißt. Der Sitz gerät ins Schwanken und baumelt dann frei in der Luft um Pauls Hüfte. Paul ist in den Ast verklemmt und stößt einen Schrei hervor, der mir das Blut gefrieren lässt: Ein Schmerzensschrei der puren Qual. Er rammt das Messer seitlich nach unten. Dann, schnipp, schnapp!, der ganze Sitz stürzt in die Tiefe, und ich werde mit einem einzigen plötzlichen Ruck in die Luft geworfen. Mein Gesicht und mein Körper schlagen hart im Schnee auf, und ich werde fast zwei Meter weit gegen den Baumstamm geschleudert. Der Aufprall ist schmerzhaft. Ich kann spüren, wo ich einen Bluterguss an der Schulter bekommen werde.
»Paul«, schreie ich. »Paul!«
Ich bringe mich in die richtige Position, gehe in die Grätsche, umschlinge den Stamm mit den Beinen und klammere mich mit aller Kraft fest.
»Paul! Kannst du mich hören?« Es kommt keine Antwort, aber sein Gewicht zieht noch immer an dem Baum.
»Paul!«
Nichts. Dann erschlafft das Seil unvermittelt, und es lastet kein Druck mehr darauf. Ich schreie.
»Paul!«
»Du musst tun, was ich sage«, brüllt er zurück. »Kannst du dich von der Felswand wegbewegen, sobald ich bis drei gezählt habe?«
Erleichterung durchflutet mich.
»Ja, aber zähl bis zehn, ich habe mich hier irgendwie verheddert«, schreie ich hinunter.
»Sag einfach Bescheid, wenn du so weit bist, okay? Aber versuch, dich zu beeilen.«
Ich krabbele unter dem Baum ein Stück zurück und befreie mich. Das Seil wirkt schlaff. Ich laufe zur Felskante und spähe nach unten. Paul steht jetzt aufrecht im Baum und hat eine Hand um einen kleinen Felsvorsprung gelegt. Er hat vor, an der Wand hinaufzuklettern. Ich soll ihm helfen, indem ich mit dem Seil loslaufe.
»Was ist, wenn du fällst?«, rufe ich nach unten.
Er schaut auf und lächelt.
»Das würde sehr romantisch, Jane. Wir würden zusammen sterben, wie Romeo und Julia.«
Ich pumpe meine Lungen voll Luft und atme aus. Was für ein Arsch.
»Nimm’s nicht persönlich, Paul, aber ich will nicht mit dir sterben.«
»Ein Grund mehr, streng dich an. Pass auf, dass du nicht ausrutschst.«
Ich vergewissere mich, dass der Knoten um meine Taille auch fest genug ist.
»Warte einen Moment«, rufe ich. »Ich habe eine Idee.«
Ich stapfe eilig zum Baum zurück, krieche wieder unter die Äste und einmal herum und habe dadurch eine Art primitiven Flaschenzug. Statt weiter von Paul wegzugehen, ziehe ich das Seil, bis es gespannt ist, und gehe dann zur Seite, parallel zum Abgrund.
»Los!«, schreie
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