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Survive

Survive

Titel: Survive Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Morel
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an. Sein Blick ist leer.
    »Tot ist tot. Sie ist nicht mehr hier.«
    Ich versuche es noch einmal.
    Er blickt nach oben, wie um die Existenz des himmlischen Jenseits anzuerkennen, obwohl ich mir keine Sekunde lang vorstellen kann, dass er auch nur einen Deut auf dieses Glaubenssystem gibt. Ich starre ihn einfach nur an, während mir Tränen in die Augen steigen. Ich empfinde eine Traurigkeit, die ich nicht einordnen kann. Ich kann mich nicht bewegen oder sprechen, und meine Knochen fühlen sich an, als würden sie zerfallen. Ich beginne unkontrolliert zu zittern, und mein Mund öffnet sich, aber es kommt nichts heraus. Warme Tränen fließen über mein Gesicht und gefrieren. Ich kann nur mit Mühe atmen, und dann wird mir schwindelig. Die Welt ist aus den Angeln gehoben, und für den Bruchteil einer Sekunde habe ich das Gefühl zu fallen.
    Paul kommt auf mich zugesprungen, legt die Arme um mich und hält mich auf den Beinen. Er hält mich ganz fest, wie es mein Vater getan hat, als ich noch ein kleines Mädchen war.
    »Ganz ruhig, Solis. Es ist gleich vorbei.«
    Ich kann nicht glauben, dass das derselbe Typ ist, der eben noch Witze über den Kopf des Piloten gemacht hat.
    Mein Körper hört nicht auf, unkontrolliert zu zittern. Paul drückt mich fester und fester an sich und flüstert dabei ständig: »Schön atmen … atmen … atmen«, bis ich mich wieder unter Kontrolle habe.
    Und dann geschieht etwas Unerwartetes. Ich höre mich sprechen, und es ist nicht sarkastisch oder ausweichend, und kein Ärger oder Zorn spricht aus meiner Stimme, sondern Aufrichtigkeit.
    »Ich sollte tot sein, nicht Margaret«, sage ich und deute auf ihren Leichnam.
    »Hast du sie gekannt?«, fragt er.
    »Nicht direkt«, antworte ich. »Ich meine, ein klein wenig. Sie hatte ein richtiges Leben: Sie war frisch verheiratet, und sie hatte Eddie, der sie über alle Maßen liebte.«
    »Manchmal führt Glück dazu, dass man Schuldgefühle entwickelt«, murmelt Paul leise. »Du darfst dich nicht deshalb quälen, weil du immer noch hier bist.«
    Er weiß nicht einmal, wovon ich rede, aber er hat das Richtige gesagt. All das Leben, auf das Margaret sich so freuen konnte, all das Leben, das ich zu zerstören und wegzuwerfen versucht habe. Nichts von alledem spielt eine Rolle. Ich bin diejenige, die Glück hatte. Sie war es nicht. Und jetzt fühle ich mich deshalb schuldig. Auf die gleiche Weise, wie ich mich schuldig gefühlt habe, weil ich lebte und mein Vater gestorben war. Warum sollen wir weitermachen, wenn die Menschen tot sind, die wir lieben?
    »Gibt es denn gar nichts, was eine Rolle spielt?«, frage ich, während mir einige Tränen über die Wangen kullern.
    Ich gucke ihn an, und ich schwöre, dass ich in seinen Augen Tränen aufsteigen sehe. Er schenkt mir einen eigentümlichen Blick, dann setzt er seine Sonnenbrille wieder auf.
    »Geht’s jetzt wieder?«, fragt er zum wiederholten Mal. Er will weiter.
    »Ich sollte tot sein.«
    »Ich verstehe.«
    »Nein, tust du nicht. Ich habe gestern Abend versucht, mich umzubringen, in der Toilette, bevor das Flugzeug abgestürzt ist. Genau deshalb habe ich überlebt. Mächtig verkorkste Geschichte. So verkorkst wie ich.«
    Ich weiß nicht, warum ich es ihm in diesem Moment einfach erzähle, auf einem verschneiten Friedhof voller Leichen, und ich weiß auch nicht, warum meine normalerweise undurchdringliche Stahlkammer plötzlich weit offen steht und ihm freien Einblick gewährt, aber so ist es nun mal.
    »Wie meinst du das?«, fragt er. Ich kann seine Augen nicht sehen, aber sein Mund ist vor Kummer verzerrt, und seine Oberlippe zittert. Ich glaube, er versucht, etwas zu sagen – irgendwas – , um zu helfen, aber er findet nicht die richtigen Worte. Und dann auf einmal platzt es aus mir heraus.
    »Ich habe in der Toilette angefangen, Pillen zu schlucken, dann ist das Flugzeug abgestürzt, und ich bin lebendig wieder aufgewacht. Ich sollte tot sein, aber ich bin es nicht. Sie sollte leben, aber sie tut es nicht.«
    Paul steht da wie eine Statue, sieht mich an und durch mich hindurch und versucht, seine Gedanken, so schnell erkann, zu ordnen. Ich kann mir etliche dieser Gedanken vorstellen: Heiliger Bimbam, ich bin auf einem Berg mit einer megadurchgeknallten Irren; versteck das Messer, sie könnte uns beide umbringen; lass sie nicht an die Minibar ran, falls wir sie finden.
    Aber er sagt nur: »Wenn du kein Glück gehabt hättest, wäre ich jetzt tot. Es geht nicht nur um dich.«
    Sein Mund entspannt

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