Survive
sperrig, und das Gewicht ist ungleichmäßig verteilt, der Schwerpunkt ist zu weit oben, was das Gehen schwierig macht. Schon nach wenigen Schritten wird mir klar, dass es zu viel Zeit kostet, das alles zu dem Felsvorsprung zu tragen. Ich setze die Sachen ab und schiebe sie in die überdachte Passagierkabine, um sie vor dem Schnee zu schützen. Ich stapfe zurück, wieder an der Außenseite der Kabine abgestützt, und dann hinunter Richtung Felskante, mit dem Seil über meiner Schulter und den Kleidern für Paul unter meiner Jacke. Ich klopfe immer wieder auf meine Innentasche, um mich zu vergewissern, dass Pauls Messer noch da ist.
Als ich die Abbruchkante erreiche, schaue ich zu Paul hinunter. Ich rufe nach ihm, aber er hört mich nicht. Der Wind ist stärker geworden, und es ist schwierig, überhaupt etwas zu hören.
Ich schreie »Paul«, so laut ich kann, und dann trete ich etwas Schnee in seine Richtung, und er schaut auf.
»He«, sagt er.
Wir starren einander für einen kurzen Moment an. Selbst aus dieser Entfernung – oder vielleicht gerade deshalb – ist eine Menge in seinen Augen zu lesen: Furcht, Todesangst und eine Art verzweifelte Einsamkeit, die ich verstehe, aber niemals mit Worten erklären könnte.
Ich blicke hinab und befasse mich zum ersten Mal eingehender mit Pauls prekärer Lage. Er befindet sich etwa sieben Meter unter der Felskante, eingekeilt zwischen dem Baum und dem Berghang. Es ist eher eine Felswand als ein Hang. Er ist immer noch mit seinem Sicherheitsgurt an den Stuhl geschnallt, und der Gurt klemmt. Selbst wenn er den Gurt irgendwie aufschneiden würde, sehe ich keine Möglichkeit, wie er seinen Sitz verlassen könnte, ohne mit ihm bis auf den Grund hinabzustürzen. Selbst wenn er sich an dem Baum festhalten und nach oben klettern könnte, würden ihn immer noch gut drei Meter vom Plateau trennen. Bei gutem Wetter und mit der richtigen Ausrüstung hätte er vermutlich hinaufklettern können. Aber uns fehlt beides. Ich schaue in den Himmel und dann zurück zu Paul.
»Was soll ich tun?«, frage ich.
»Binde das Seil um das Messer und lass es zu mir herunter. Aber Vorsicht, es ist der Faden, an dem mein Leben hängt.« Er lacht. Für ihn ist alles immer noch ein Witz. In der Klinik habe ich Typen wie ihn nie leiden können.
Es beginnt wieder zu schneien, nicht allzu heftig, doch der Wind weht den Schnee seitwärts und macht es schwer, das Seil um das Messer zu wickeln. Stattdessen binde ich es zu einer Schlaufe und ziehe es über die Spitze der Klinge. Ich wackele mit der Spitze hin und her, bis sie das Seil aufschneidet. Dann wickele ich das aufgeschnittene Seil um den Griff, mache einen Knoten und dann noch einen – es ist der einzige Knoten, den ich kenne.
Langsam lasse ich das Seil über die Felskante, und das Messer gleitet sanft zu Paul hinunter. Er streckt die Hand aus, zieht das Seil samt Messer zu sich heran und wickelt es um seinen Unterarm. Eine seiner Hände muss vor Kälte steif sein, denn er nimmt den Mund, um den Knoten zu öffnen.
»Pass auf, dass du dich nicht schneidest«, rufe ich.
»Ein gutes Zeichen, wenn die Philosophin scherzt«, ruft er zurück. »Da hat sie zumindest nicht die Hosen voll vor Angst.« Er hält eine Sekunde inne, dann schaut er mit einem Lächeln zu mir auf. »Ich bin froh, dass wenigstens einer von uns nicht die Hosen voll hat.«
Er lacht in sich hinein, während er in höchster Gefahr über dem tödlichen Abgrund schwebt. Irgendwie spornt mich das an. Ich balle meine Fäuste, knie mich hin und beobachte nervös, wie Paul in seinem Sitz hantiert.
Er löst das Messer aus dem Seil, indem er die Schlaufe lockert und sie dabei in seiner Hand behält, während er das Messer mit dem Mund herauszieht. Das Messer wie ein Pirat fest zwischen die Zähne geklemmt, schaut er zu mir auf.
Er packt das Messer mit der rechten Hand und schiebt es dann in seine Jacke. Er betrachtet den Sitz und den Baum, und ich schaue in seine Augen und versuche zu erkennen, mit welchen Schwierigkeiten er kämpft und was er überhaupt tun kann, um aus dem Sitz und die Steilwand hinaufzukommen.
Aus meiner Perspektive wird das Problem zunehmend klar. Der Sicherheitsgurt hat sich um einen großen Ast gewickelt, der den Sitz und Paul trägt. Wenn Paul den Gurt aufschneidet, wird er ihr volles Gewicht freigeben. Vielleicht könnte ein weiterer Ast sie aufhalten, aber aller Wahrscheinlichkeit nach würde Paul im freien Fall in den Tod stürzen.
»Du kannst ihn nicht
Weitere Kostenlose Bücher