Susan Price
küsste. »Wähle. Wähle zwischen deinem Bruder und deiner Herrin.«
Elflings Kopf neigte sich zwischen ihren Händen nach unten, als ob er ihr nicht in die Augen schauen könnte. Kendidra wartete, erfüllt von Furcht, dass ein Blick auf sie fallen könnte. Sie hielt den Atem an und ballte ihre Hände zu Fäusten, bis sie schmerzten. Sie sah Elfling den Kopf schütteln, den die Frau immer noch in ihren Händen hielt.
Die Frau entließ ihn aus ihrem Griff. »Ich erfülle dir deinen Wunsch. Du wirst die Kraft allein finden müssen, damit zu leben.«
Sie ging zum Bett und beugte sich mit ihrem Oberkörper darüber. Ihre langen Haare fielen ihr über die Schultern und die Bettdecke und verdeckten alles, was sich im Bett befand. Dann wich sie zurück, und als sie sich aufrichtete, glitten ihre Haare über das Bett. Ihre Augen suchten Elflings, und dann drehte sie sich zu Kendidra um. Einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, doch noch in der Bewegung löste sie sich auf. Kendidra stand bewegungslos da, ihr Atem ging nur in kurzen, keuchenden Stößen. Sie starrte auf die leere Stelle neben dem Bett, kniff sogar die Augen zusammen, aber aus den Schatten, der Dunkelheit und dem Feuerschein formte sich keine Gestalt mehr. Dort stand niemand. Niemand, den sie sehen konnte.
Elfling setzte sich auf das Bett und beugte sich darüber. Sein Kopf und seine Schultern waren von Schatten umgeben. Kendidra bewegte sich mit unsicheren, kleinen Schritten auf ihn zu.
Die Kraft des Feuers ließ nach, und der Raum wurde dunkel und kälter. Im Inneren des Schrankbetts war es dunkel, und sie konnte Wulfweard nicht sehen. Doch als sie nach dem Bettpfosten griff und sich anlehnte, erkannte sie vor sich ein Licht, das zuerst schwach schien, aber heller wurde, wie eine gerade angezündete Kerze, die erst flackert, bevor ihre Flamme ihre ganze Kraft entfalten kann. Im Schein dieses Lichts sah sie Elflings Hände auf Wulfweards Brust ruhen. Seine langen Haare verdeckten sein Gesicht und schmiegten sich an Wulfweards Brust und Hals, und einige Strähnen berührten dessen Antlitz. Langsam wurde Kendidra bewusst, dass das Licht, das Elflings Haare schimmern ließ, von seinen eigenen Händen zu kommen schien und nur deswegen zu sehen war, weil der Raum in völliger Dunkelheit lag.
Und da war diese Hitze, die nicht vom Feuer stammte, sondern von Elfling – ein stetiges Ansteigen seiner Wärme, die immer größer zu sein schien als die anderer Menschen. Mit ihr kam ein süßer Duft, der vielleicht nur dem frisch geschnittenen Gras in Wulfweards Matratze oder dem Holzgeruch der Hauswände zu verdanken war.
Sie hörte Wulfweard tief einatmen und leicht und sanft wieder ausatmen. Er bewegte sich und seufzte, und dann atmete er regelmäßig und tief. Das Licht verblasste und schwand dahin, zuerst an den Bettkanten und dann an Elflings Händen, wo es am hellsten geschimmert hatte, und ließ den Raum dunkler und kälter zurück als zuvor.
Kendidras Herz und Seele aber erstrahlten vor Freude, weil das Licht einen Weg in ihr Innerstes gefunden zu haben schien. Sie lächelte in der Dunkelheit, denn ein Glücksgefühl hatte von ihr Besitz ergriffen, das sich aus Ehrfurcht und Angst nährte. Götter, dachte sie. Was habe ich bloß gesehen!
Es ist wahr, dachte sie, alles wahr.
Was habe ich bloß gesehen!
Sie hatte geglaubt, dass all die Geschichten über ihn, über den »Auserwählten der Göttin«, sich nur auf die Krönungszeremonie bezogen, bei der er seinen Fuß in den Stein setzte und zugleich Trompeten erschallten. Aber was hatte sie hier gesehen! Die Bedeutung der Worte »Auserwählter der Göttin« war leicht und einfach zu verstehen, und weil sie so leicht und einfach zu verstehen war, war sie auch von unermesslicher Macht. Er gehörte der Göttin. Er war ihr Geliebter, ihr Ing. Der Tag seines Todes und die Art seines Sterbens waren bereits bestimmt.
Sie konnte nicht mehr stehen. Ihre Beine gaben nach, und sie musste sich hinknien. Und dann, als sie irgendwie ihre Dankbarkeit und ihre Ängste kundtun wollte, entdeckte sie mit ihren Händen seine Stiefel und beugte ihr Haupt.
Überrascht griff er unter ihre Ellbogen und zog sie hoch. Sie schluchzte.
Er stand auf und zog sie mit sich, durch den ganzen Raum und seine rot schimmernde Dunkelheit. Kleine züngelnde Flammen tauchten den Raum in ein schwaches gelbes Licht, als er mit seinem Stiefel in das Feuer trat, und ihre Gesichter wurden als undeutliche Umrisse sichtbar. »Was?«, fragte
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