Susan Price
bewegte sein Pferd langsam vorwärts, während er die Menge überblickte, und zeigte dann auf einen mageren Jüngling von etwa zehn Jahren. »Ihn.« Soldaten stürmten in die Menge, um den Jungen hervorzuzerren. Da er fürchtete, genau wie die Männer umgebracht zu werden, wehrte er sich und schrie. Seine Mutter eilte ihm zur Hilfe und stimmte in seine Schreie ein, aber sie wurde zur Seite gestoßen.
»Die Jungen werden nicht getötet!«, donnerte Unwin, und seine Stimme war in der gesamten Stadt zu hören. Selbst seine Männer hielten in der Bewegung inne und starrten ihn an. In der darauf folgenden Stille sagte er: »Herrin, ich will diese Jungen als Geiseln. Ich will alle Jungen in seinem Alter und darüber. Sagt dies bitte euren Leuten.«
Die entsetzten Jungen wurden aus der Menge gezerrt und von einer Gruppe bewaffneter Männer zusammengepfercht. Von allen Seiten war das Weinen der Frauen zu hören. Ebba wandte sich von den Dänen ab und widmete den weinenden Frauen ihre Aufmerksamkeit. Warum weinten sie denn? Glaubten sie etwa, es würde einen Unterschied machen?
»Lady Aeditha«, sagte Unwin, »stirbt einer meiner Männer während unseres Aufenthalts in der Königsburg, werde ich zwei Eurer Jungen meinem blutrünstigen, jungen Freund hier übergeben, Ingvi Troll. Wisst Ihr, was ›Troll‹ bedeutet?«
»Ich glaube, alle Dänen sind Trolle«, antwortete die Herrin.
Als Ingvi daraufhin laut lachte, hoben sich seine weißen Zähne deutlich von seiner Hautfarbe ab.
»Ingvi wird Eure Jungen zu Odin schicken.« Ingvi tat das Seinige, um die Bewohner der Stadt einzuschüchtern, indem er ein unsichtbares Seil um seinen eigenen Hals legte, den Hals nach oben reckte und die Zunge herausstreckte. »Für jedes Pferd, das überraschend lahmt, werde ich ihm einen Jungen geben. Ihr werdet die Jungen auswählen, Herrin. Jetzt gebt mir Eure Schlüssel.«
Unwin beugte sich aus seinem Sattel und streckte die Hand aus. Sie übergab ihm den großen Schlüsselbund, den sie an ihrer Seite trug und der die Schlüssel zu jedem Lagerraum und jeder Truhe enthielt. Er warf ihn einem seiner Hauptleute zu und stieg erst dann ab. Ingvi folgte seinem Beispiel.
»Ich werde in den königlichen Gemächern übernachten«, sagte Unwin gerade zu Aeditha, als Ebba eine der abgetrennten Hände vom Boden aufhob und ihm unter gackerndem Gelächter ins Gesicht schlug.
Unwin wich einen Schritt zurück, was sein Pferd nervös tänzeln ließ. Ingvi schritt auf Ebba zu, um sie zu töten, und andere Dänen rannten mit gezückten Schwertern in derselben Absicht herbei. Aeditha stellte sich den Männern entgegen, packte Ebba an ihren langen verfilzten Haaren und zerrte sie zurück. »Sie ist wahnsinnig, Atheling! Könnt Ihr nicht sehen, dass sie wahnsinnig ist?«
Die Dänen blieben auf der Stelle stehen. Obwohl sie noch an den Haaren festgehalten wurde, lachte und deutete Ebba auf die Männer, klatschte und johlte. Ingvi wich zurück. An Unwin gerichtet sagte er: »Sie gehört Odin.«
Unwin ging zu Ebba, verschränkte die Arme und betrachtete sie eingehend, während sie voller Freude über ihren eigenen Witz tanzte, ohne auf das Gezerre an ihren Haaren zu achten.
»Ich kenne sie«, sagte er. Er schaute zu Aeditha. »Bringt sie zu mir, wenn ich gegessen habe.«
Er ging zum Königssaal. Ingvi folgte ihm, nachdem er Ebba angestarrt hatte.
Erleichtert zog Aeditha Ebba in ihre Arme. Sie warf einen Blick auf die Dänen in ihren Straßen, auf die schluchzenden Frauen, auf die Köpfe ihres Mannes und ihres Sohnes, die auf dem Boden lagen, und sie hielt den Atem an, um nicht selbst in Tränen auszubrechen. »Ebba«, sagte sie, »oh, Ebba.«
Ebba war nicht wahnsinnig. Sie wusste das sehr wohl. Sie war … eine freie Frau. Sie war die freieste Frau auf dieser Mittelerde, und wenn es des Wahnsinns bedurfte, um frei zu sein, dann sollte es so sein.
Sie war als Sklavin geboren worden, und ihr Leben bestand aus Arbeit. Das hieß schwere Eimer zu tragen, die Schultern und Rücken schmerzen ließen; tagelang auf kalten, nassen Feldern zu stehen und die Vögel von den Samen zu verjagen; sich auf der Suche nach Steinen andauernd zu bücken; jeden Tag den Mahlstein zu drehen, um das Getreide in Mehl zu verwandeln.
Ihre Zukunft war mit Leichtigkeit vorherzusagen: endlose Arbeit, die ihr nichts einbrachte, die sie nicht tun wollte. Und sie wäre dem Willen eines jeden Mannes untertan, ob er nun Freier oder Sklave war. Unabhängige Frauen konnten sich ihre
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