Susan Price
kümmerten sich um die Pferde.
Kendidra hielt ihm einen Brotkorb hin. Als er sich eine Scheibe nahm, schaute er an ihr vorbei und sah einen finster dreinblickenden Jungen – ihren ältesten Sohn, der ihn angegriffen hatte. »Wie heißt du?«
Der Junge antwortete sofort und schrie dabei fast. »Godwin Unwinssohn . Atheling.«
Godwin – Gottesfreund . Aber kein Freund der Göttin. »Ich werde Unwin jagen, Atheling. Möchtest du dabei sein, wenn ich ihn töte?«
Einen Augenblick lang ließ der Schock den Jungen völlig ausdruckslos wirken, aber dann kehrte sein finsterer Blick zurück, gepaart mit Wut. Kendidra konnte nicht fassen, dass Elfling so etwas Grausames hatte sagen können.
»Pack deine Sachen«, sagte Elfling zu dem Jungen. »Du wirst mich bei Tagesanbruch begleiten.«
»Nein!«, rief Kendidra. Elflings Augen fanden ihre, und sie verstummte, als ob sie einen leichten Schlag ins Gesicht erhalten hätte.
»Bei Sonnenaufgang. Er kommt mit mir.« Er biss in sein Brot und ließ Kendidra einfach stehen. Seine Männer erwischte er auf dem falschen Fuß, denn drei von ihnen mussten nun hastig ihre Hörner zurückgeben und ihm als Leibwache folgen. Sie fluchten, aber Kendidra sah auch, wie sie sich gegenseitig angrinsten.
»Mutter!« , rief Godwin.
»Mach dir keine Sorgen – ich werde mit ihm reden. Vielleicht will er dich deinem Vater übergeben!«
»Wulf?«
Der schwarze Himmel und die schwarze Heide lösten sich im Flammenschein auf und verwandelten sich in den Anblick des hell erleuchteten Saals – Elfling lehnte am Türrahmen und schaute in das Schrankbett hinein.
Wulfweard lächelte und richtete sich auf. In Elflings Gegenwart war das Land der Schatten weit entfernt, weiter als bei jedem anderen. »Du machst Jagd auf die Dänen.« Nur das konnte der Grund für sein plötzliches Erscheinen sein.
Elfling nickte. »Wir reiten vor Sonnenaufgang.«
Wulfweard blickte zu Boden. »Ich bin zu nichts nutze. Ich kann Schwert und Schild kaum heben, ja nicht einmal auf Dauer tragen.« Ganz zu schweigen von Kettenhemd oder Helm, dachte er.
Elfling lachte. »Ich brauche dich nicht. Ich nehme Godwin mit.«
Wulfweard stand auf. »Warum?«
Elfling schüttelte den Kopf, und seine Haare folgten der Bewegung. Er lächelte sein sanftes, ein wenig schüchtern wirkendes Lächeln, das ihm so viele Herzen hatte zufliegen lassen. Aber es war Wulfweards eigenem zu ähnlich, um bei ihm dieselbe Reaktion hervorzurufen.
»Der Junge ist dir keine Gefahr!«, sagte Wulfweard. »Er ist nicht von der Göttin auserwählt! Er hat weder Athelric noch die gesamten Zwölfhundert hinter sich!«
Elflings Lächeln wurde breiter, und er schlug Wulfweard auf die Schulter. »Der Junge hasst mich einfach. Wenn er bei mir ist, dann wird er mich vielleicht besser kennenlernen.«
Wulfweard betrachtete ihn eingehend und runzelte die Stirn, während Elfling seinen Blick erwiderte und ihn anlächelte. So viele Menschen, auch Athelric und Kendidra, dachten, weil Elfling schön anzusehen war, Wärme ausstrahlte und die Kräfte eines Heilers besaß, müsste er auch ein gütiger Mensch sein. Wenn er dies nicht war, fanden sie schnell Ausreden. Wulfweard wusste genau, dass auf Elflings Güte so wenig Verlass war wie auf schönes Wetter. »Wenn du Godwin mitnimmst, dann begleite ich dich auch.«
»Du bist nicht stark genug.«
»Ich werde stärker.«
»Dann such deine Sachen zusammen.« Als Elfling im Begriff war zu gehen, warf er noch einen Blick zurück. »Du wirst auch dabei sein, wenn ich ihm ein Ende bereite.«
Wulfweard saß auf seinem Bett und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er wusste, wessen Ende er meinte.
DAS WAHNSINNIGE MÄDCHEN
Das Tor von Kingsborough stand offen. Ihren Namen verdankte die Stadt den Pachtgeldern, die sie in die königliche Schatztruhe einzahlte. Ihre Bewohner warteten schweigend auf dem Hof vor dem Königssaal. Es waren nur noch Frauen oder Kinder. Die Männer versteckten sich oder waren tot.
Das wahnsinnige Mädchen saß bei ihnen im Dreck und betrachtete sie, ohne eine von ihnen zu sein. Das einzige Kleidungsstück, das es am Leibe trug, war ein abgetragener Kittel aus grauer Wolle, und wo es im Schlamm gesessen oder gar im Dreck gelegen hatte, war der Stoff nach dem Trocknen steinhart geworden. Die ungekämmten Haare waren ein verfilztes, wildes Durcheinander, in dem Blätter und Äste steckten. Die seltsamen, leicht schrägen Augen starrten aus diesem Durcheinander hervor wie ein wildes Tier aus dem
Weitere Kostenlose Bücher