Susan Price
er begann unter großen Schmerzen zu würgen.
Elflings Hand legte sich auf seinen Bauch. »Nein«, sagte Elfling und flüsterte ein weiteres Wort in sein Ohr, das er weder hörte noch verstand – doch die schmerzhaften Krämpfe ließen nach, und die Übelkeit verschwand. An ihre Stelle trat Hunger, reiner, unwiderstehlicher Hunger, wie er ihn schon seit Tagen nicht mehr verspürt hatte. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als er nach der Schale griff. Das ausgehöhlte Auge verzerrte das faltige Gesicht des Einäugigen, als er ihm mit einem Grinsen die Schale reichte.
Sie war bis zum Rand gefüllt und schwer, doch Elfling hielt sie für ihn fest, während ihm der alte Mann einen Holzlöffel gab. Das Essen war kochend heiß. Die Hitze durchströmte ihn, stärkte und wärmte ihn. Der Fleischgeschmack in seinem Mund, seine salzige Würze, seine kräftige, blutige Note, verliehen ihm Kraft. Elfling war hinter ihm, stützte ihm den Rücken, und Wulfweard konnte sein Lachen nicht nur hören, sondern auch spüren. Der alte Mann kauerte zwischen den Blättern und grinste, als er ihn ordentlich zuschlagen sah. Die gute Laune, das wärmende Feuer und der Schutz des großen Baums verliehen ihm genauso viel Kraft wie das Essen. Nachdem er gegessen hatte, legte er sich auf die Blätter und schlief wieder ein. Das sanfte atmende Heben und Senken der Erde unter ihm wiegte ihn in den Schlaf: der Herzschlag der großen Esche.
Er erwachte auf einer harten Bank. Es war totenstill, eiskalt und dunkel bis auf schwaches, grau schimmerndes Licht. Ihm wurde schwindlig, als er sich aufsetzte, doch es ging ihm bald besser, und er war dankbar dafür, wieder klar denken zu können und keine Schmerzen mehr zu empfinden. Aber er befand sich wieder in dem Raum, dessen Holzwände ihn so bedrohlich umklammert hielten. Helles, klares Mondlicht ergoss sich in langen Strahlen von den Rändern der Fensterläden hinab in den Raum und erhellte ihn. Ein Gefühl der Einsamkeit und der Sehnsucht nach der Schönheit des Baums trieben ihm stechende Tränen in die Augen, und er hielt den Atem an.
Lachen ließ ihn blitzschnell seinen Kopf drehen. Elfling saß nackt im Schatten auf einer Ecke der Wandbank, und seine Haut spiegelte das schwache Licht wie poliertes Elfenbein wieder. Seine langen Haare und seine Augen schimmerten silbern.
Wulfweard sprang auf und hielt dann inne, denn die Kraft, die er verspürte, verwunderte ihn. Elfling stand auf, ging an seinem Bruder vorbei und ergriff dabei seine Hand. Das Türschloss öffnete sich auf eine Berührung seiner Hand mit einem sanften rollenden Klicken, und die Tür schwang nach innen. Wulfweard überraschte es nicht – oder er war zu sehr überrascht, um dies noch als bemerkenswert zu empfinden. Er wurde durch die Tür in den Vorraum geführt.
Vor der Tür standen Wachen mit Speeren in der Hand, doch ihre Schilde standen neben ihnen an der Wand. Der eine starrte geradeaus, während der andere mit geschlossenen Augen an der Wand lehnte.
Elfling und Wulfweard blieben vor ihnen stehen, doch weder sahen die Wachen sie an noch schienen sie das geringste Geräusch zu vernehmen. Eine unmittelbare Gefangennahme war unausbleiblich, aber zugleich kam Wulfweard sich so wenig greifbar vor wie die Zugluft, die um ihre Ohren pfiff. Der Gedanke ließ ihn erzittern. Er wollte Elfling fragen: Sind wir nun beide Geister? Bin ich tot?
Elfling lachte leise, griff nach dem Bart des einen Wächters und zog daran. Der zuckte mit dem Kopf zur Seite, hustete, verlagerte sein Gewicht – blieb aber dann mit offenen Augen wieder ruhig stehen. Elfling grinste immer noch, als er Wulfweard bereits weiterführte.
Sie durchquerten den Saal bis zur Tür, wuchteten den Riegel hoch und stellten ihn an die Seite. Dann schoben sie die Türflügel auf und traten hinaus in die Winternacht.
Der Schock war wie der Sprung in kaltes Wasser. Über ihnen schillerte ein Sternenhimmel auf tiefschwarzem Grund, und jeder einzelne Stern glitzerte eisig und hart. Der Mond wirkte riesig, fast voll, eine knochenweiße Scheibe, deren Rand abgeschnitten war. Unter ihren bloßen Füßen spürten sie den harten Boden, der von einer dünnen Decke gefrorenen knisternden Schnees überzogen war. In einer solchen Nacht blieb man nicht stehen.
Elfling stieß einen Jagdschrei aus und rannte in Richtung Tor. Wulfweard stimmte mit ein und folgte ihm. Sie liefen auf unterschiedlichen Wegen zwischen den Gebäuden hindurch, riefen sich über die Dächer hinweg zu,
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