Susan Price
und hielt ihn über den Kopf.
»Oh, die Stechpalme und der Efeu,
Wenn sie erst in voller Blüte stehen,
Von allen Bäumen in den Wäldern
Ist die Stechpalme die wahre Königin!
Oh, der Sonnenaufgang
Und die Flucht des Hirschen …«
Ingvi sprang von der Bank auf und rannte durch die Asche zu dem Mädchen, ohne auf seine frisch gereinigten Stiefel zu achten. Das Mädchen war ein so unheimlicher Anblick, mit ihren Luftsprüngen und ihrem Gejaule, völlig verrückt und von Kopf bis Fuß in Asche eingehüllt. Aber sie war Odins Wahnsinnige, und es war Odins Jahreszeit. Ingvi packte sie an der Hand und stimmte in ihren Tanz und ihr Lied ein.
»… und süßer Gesang rund um das Feuer!
Oh, die Stechpalme erblüht,
So weiß wie Schnee,
Als Frigga ihn gebar, unseren süßen Ing,
Und ihn in Seide hüllte, juchhe!
Oh, der Sonnenaufgang!«
Weitere Dänen gesellten sich zu ihnen, und schnell formte sich ein großer Kreis, der sich auf der Asche und um die Asche drehte. Ihr lauter, fröhlicher Gesang und ihr Gelächter stiegen in der kalten Winterluft empor und wurden über die Hausdächer hinfortgetragen.
Atemlos beendeten sie ihren Gesang, und ihr Kreis zerfiel. Gemeinsam trafen sie sich in der Mitte, umarmten sich, klatschten und jubelten sich zu. Waliser waren aus den anderen Häusern herbeigeströmt und schauten ihnen zu, doch nur einige von ihnen lächelten.
Ebba zog an Ingvis Arm, bis er seinen dunklen Kopf zu ihr herabbeugte. Er war sogar noch dunkler als sie, doch seine Haare starrten nun genauso vor Asche wie die ihren. »Morgen ist der neunte Tag«, flüsterte sie. »Nach neun Tagen kehrt er zurück.«
»Sie ist wahnsinnig«, sagte jemand, doch in Ingvis dunklen Augen erkannte sie, dass er ihr Glauben schenkte.
»Und wenn er zurückkehrt«, sagte er, »werde ich an seiner Seite sein! Darauf kannst du dich verlassen, meine Süße.«
Sie lächelte und küsste ihn anschließend. Als er überrascht zurückwich, flüchtete sie und schrie: »Heute ist der achte Tag!«
»Wahnsinnig«, wiederholte der Mann.
»Ja«, pflichtete ihm Ingvi bei. »Odins Wahnsinnige.«
Wulfweards Schmerzen waren so unerträglich, dass es ihm schien, als ob es in seinem Kopf nur Krach gäbe. Manchmal dachte er, der Lärm wäre nur der christliche Priester, der auf dem Holzfußboden umhertrampelte, ihm Vorhaltungen machte, ihn dazu ermahnte, Unwin und Christus die Treue zu schwören. Manchmal, wenn er die Augen öffnete, war dem wirklich so, denn die ruckartigen Bewegungen des Priesters bereiteten ihm Übelkeit. Manchmal war der Raum leer. Ob er nun von grauem Tageslicht durch den hohen geschlossenen Fensterladen erhellt wurde oder durch eine einzelne Kerze, oder im Dunkeln lag – es war egal. Der Lärm in seinem Kopf nahm kein Ende.
Nachzugeben war ihm unerträglich erschienen, zu widerstehen ein Zeichen von Stärke gewesen. Doch die Kraft seines Körpers war schneller geschwunden als die Entschlossenheit seines Willens. Sein Kopf hatte derart zu schmerzen begonnen, dass klares Denken unmöglich geworden war. Den Wasserkrug zu heben wurde schwer. Er konnte seine Hand kaum zu einer Faust ballen. Sein Magen schien in seinem Inneren an etwas zu nagen, als ob er sich, völlig ausgehungert, dazu entschlossen hätte, sich von seinem Körper zu ernähren.
Merkwürdigerweise hatte die Hoffnung, Unwin würde wiederkommen, ihm dabei geholfen, stark zu bleiben. Unwin konnte dies nicht angeordnet haben. Aber dennoch wusste er, dass Unwin ihn tot sehen wollte. Er konnte nicht mehr klar denken. Unwin würde kommen …
Die Schmerzen an seinem Hals, seinem Rücken und in seinen Gelenken machten ihm das Leben zu einer solchen Qual, dass er zu spüren glaubte, alle Knochen in seinem Leib würden langsam zermahlen. Seine Fingerspitzen wurden so empfindlich, dass der leichteste Druck zu blauen Flecken führte.
Einmal hatte er beim Öffnen seiner Augen den Priester über sich gesehen, wie er ihn mit großer Besorgnis anstarrte. Der Priester war mit schwindelerregender Geschwindigkeit aus seinem Blickfeld entschwunden und war Ewigkeiten später mit Käse und Brot zurückgekehrt.
Der Käsegestank hatte Wulfweard auf leerem Magen erbrechen lassen. Er dachte, sein Innerstes würde sich nach außen stülpen, wie beim Ausziehen eines Hemds. Bei diesem Gedanken hätte er normalerweise gelacht, wäre es ihm nicht so schlecht gegangen. Er hatte den Brotteller mit dem Käse von sich geschoben, und der Krach, als er zu Boden fiel, bereitete ihm
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