Susan Price
nur halb hingehörte? Er schlug die Zähne in den harten Apfel und biss ein Stück heraus. Der Saft war kalt und süß und drang in seinem Mund in die Haut. Als er über die Schulter der Walküre blickte, sah er etwas, das zuvor nicht da gewesen war: eine hohe Insel mit Terrassen von dicht belaubten Bäumen, welche vom Hauptland durch einen breiten Streifen grauen Meeres getrennt war. »Reiten wir dorthin?«, fragte er.
Die Walküre lachte und sagte: »Hab ich dir die Erlaubnis erteilt zu sprechen? Aber jetzt, nachdem du in den Apfel gebissen hast, kannst du reden, solange du willst – und ich kann dir auch meinen Namen sagen. Ich bin Jarnseaxa.« Dieser Walkürenname bedeutete »Eisernes Schwert«, ein eisernes Sax. »Ja, wir werden dorthin gehen, auf meine Insel.«
Als das weiße Ross vorwärtssprengte, sah Elfling nirgends einen Damm oder eine Brücke oder einen Landeplatz für ein Boot. Jarnseaxa grub dem Pferd wieder ihre Fersen in die Weichen, worauf es einen gewaltigen Satz machte. Die Glöckchen klingelten, und es sprengte so sicher durch die leere Luft wie jedes irdische Pferd auf festem Boden. Es galoppierte in der Luft über das graue Meer und tauchte durch die Äste und Blätter des grünen Baldachins der Insel, bis seine Hufe festen Boden berührten.
»Jetzt sind wir zu Hause«, erklärte Jarnseaxa, als das Pferd unter den Bäumen dahintrabte.
Neugierig schaute Elfling sich im strahlenden Grün des Waldes um. Hier hingen gelbe Blütenkätzchen neben braunen Nüssen an Haselnussbäumen, dort sah er die weißen Blüten des Brombeerstrauches zusammen mit roten und schwarzen Beeren. Eine Birke streckte ihre zarten grüngoldenen Blätter aus. Eine Vogelbeere, leuchtend rot vor Grün. Eschen, kraftvoll wie Männer, ebenso Erlen, Weiden und starke Eichen. Weißdorn prangte mit weißen Blüten, Stechpalmen mit roten Beeren, Eiben, schwarz und rot. Ulmen, schön wie Frauen. Er sah Holunder mit weißen Blütentrauben und schwarzen Beeren. Irgendwo rauschte Wasser.
Auf der Kuppe der Insel, von einer mit Bäumen bestandenen Klippe geschützt, stand eine kleine Halle. Jarnseaxa zog die Zügel an und blickte zufrieden umher. »Hier werde ich dich lehren, wie man kämpft. Steig ab!«
Elfling glitt vom Pferderücken und landete mit weichen Knien auf dem Boden, der dick mit Moos und Gras bedeckt war. Jarnseaxa führte das Pferd um ihn herum.
»Du sagst nichts?«, meinte sie. »Willst du nicht lernen, wie man kämpft? Willst du dich nicht rächen?«
Elfling blickte sich um. Licht flutete grün und golden durch die Blätter, die Waldblumen und die mächtigen Bäume. Er schaute zu der Walküre auf, vermochte aber gegen das hellere Licht hinter ihr nur ihre dunklen Umrisse auszumachen. Das Licht blendete ihn. »Nein«, erklärte er. Er runzelte die Stirn und gab sich Mühe, sich an seinen Hof zu erinnern und wer getötet worden war. Alles war so weit entfernt. Es war, als hätte die Entfernung die Erinnerung ausgelöscht. »Hier, edle Dame, will ich gar nichts.« Doch dann legte er die Hand über die Augen und schützte sich gegen die durchdringenden Lichtstrahlen. Da erinnerte er sich an den Brandgeruch, die rauchenden Lehmwände und den Gestank von verbranntem Fleisch. Er erinnerte sich an Hilds lebendiges Gesicht und an den schwarzen Schädel, zu dem dieses geworden war. Er nahm die schützenden Hände von den Augen, hob den Kopf und sagte entschlossen: »Ja, edle Dame, ich will kämpfen. Ich will meinen Blutpreis.«
Die Walküre streckte ihm die Hand vom Pferd aus entgegen, legte die Finger um sein Kinn und hob sein Gesicht zu ihr hinauf. Sie schaute ihn an und sagte: »Oh, was für ein Kämpfer wirst du sein!« Er konnte ihr Gesicht im Gegenlicht immer noch nicht deutlich sehen.
Dann schwang sie sich aus dem Sattel, duckte sich unter dem Pferdehals hindurch und stand direkt vor ihm. Seine Augen wurden groß, als er sah, wie schön sie hier an diesem Ort war, viel schöner, als sie auf der Mittelerde ausgesehen hatte. Das Rot in ihrem Haar leuchtete so tief und hell wie Herbstlaub, obgleich es graue Strähnen aufwies. Ihre Augen waren weder grau noch blau, sondern beides, dazu ein Hauch vom tiefen Lila der Abenddämmerung. Sie war nicht jung, bei weitem nicht jung, aber wunderschön.
»Nimm dem Pferd das Zaumzeug ab, und reibe es gut trocken. Dann lass es frei laufen!«, befahl sie.
Nachdem er alles erledigt hatte und das weiße Pferd in den Wald gelaufen war, ging er zur Halle. Sie saß davor auf einer Bank
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