Susan Price
Priester seiner Mutter; der Mann, der ihn im christlichen Glauben unterwiesen hatte. Er wich vom Tor zurück und befahl den Wachen: »Öffnet das Tor!«
Selbst nachdem Ingvi das übersetzt hatte, weigerten sich die Männer, auch nur einen Finger zu krümmen. Die Tore der königlichen Festung wurden vom Sonnenuntergang bis zum Sonnenaufgang verriegelt. Fremde, sollten sie auch von noch so edlem Geblüt sein, hatten ihnen nichts zu befehlen, schon gar nicht, wenn einer von ihnen ein Flüchtling und der andere eine Geisel war.
»Grundgütiger!«, sagte Unwin und machte sich daran, das Tor selbst zu öffnen. Ingvi half ihm dabei. Sie wuchteten den schweren Riegel hoch und stellten ihn zur Seite, und Unwin nahm den Schlüsselring von der Wand.
In diesem Moment wurden Befehle auf Walisisch erteilt, und ein Mann rannte zur Festung zurück. »Der ist auf dem Weg, um dem König zu sagen, was wir hier anstellen«, meinte Ingvi.
»Was soll’s«, sagte Unwin, als er die verschiedenen Schlüssel an den Schlössern ausprobierte. »Sassenachs und Dänen, die sind doch sowieso alle verrückt.«
Ingvi lachte laut auf und schätzte es, von Unwin auf seiner Seite eingerechnet zu werden.
Schließlich fanden sie den richtigen Schlüssel, das Schloss öffnete sich, und Ingvi half, das schwere Tor nach innen zu ziehen. Vater Fillan stolperte durch die schmale Öffnung. Als Unwin ihn auffing und ihm half hineinzukommen, sprang Ingvi in den Schnee hinaus, um auch Fillans Esel hereinzuschaffen. Nicht dass das kleine Tier Hilfe benötigt hätte. Es stapfte willig durch das Tor, denn es wusste, dass es auf der anderen Seite Futter und Schutz finden würde. Sobald Ingvi wieder drinnen war, sprangen die Wachen vor und verriegelten das Tor wieder.
»Der Esel«, keuchte Vater Fillan. »Das Bündel.« Obwohl er völlig unterkühlt war, taumelte der Mann zum Esel hinüber und versuchte, sein Gepäck mit Fingern aufzuschnüren, die vor Kälte steif waren.
»Lass ihn und komm mit uns ans Feuer«, sagte Unwin. »Einer der Wachmänner kann es uns bringen.«
»Niemals! Niemals! Es ist zu … zu …«
»Ich werde es mitbringen«, sagte Ingvi und begann das Bündel zu lösen.
»Bringt es in mein Zimmer«, sagte Unwin und geleitete Fillan ins Haus.
Die Wallburg bestand aus mehreren Gebäuden, die von einem tiefen Graben und einem Schutzwall umgeben waren. Neben der königlichen Halle befanden sich dort Ställe und Küchen, Scheunen und Werkstätten und viele kleinere Häuser, in denen die bedeutenderen Mitglieder des königlichen Gefolges und ihre Untergebenen untergebracht wurden. Unwin hatte als Königssohn und königlicher Gast eines dieser kleineren Häuser zugeteilt bekommen, dazu auch einige Bedienstete. Einige von ihnen sprachen sogar ein wenig Englisch. Unwin führte Vater Fillan zu diesem Haus und gab ihn in die Pflege seiner Diener. Er befahl ihnen, trockene Kleidung und Essen herbeizuschaffen und warmes Wasser, damit der Ankömmling sich waschen konnte, und dann sollte er sich an das Feuer setzen.
Unwin rief seinen Hausverwalter zu sich und schickte ihn mit einer Nachricht zu den königlichen Gemächern, die seine Willkür beim Öffnen des Tors entschuldigte und eine umfassende Erklärung am nächsten Morgen versprach. »Sag ihm, dass der Mann vor dem Tor mir Nachricht brachte, und dass ich ihn in mein Haus aufgenommen und versorgt habe.« Der Hausverwalter beeilte sich, dem König zu versichern, dass weder seinem Haus noch seiner Ehre Schaden drohte.
Ingvi kam herein und trug dabei das Bündel vom Rücken des Esels in den Armen. Unwin nahm es ihm ab und führte ihn durch das Haus, wo sich die meisten Bediensteten bereits auf dem Boden zum Schlafen niedergelegt hatten, in sein Zimmer. Dort legte er das Bündel am Rand seiner leicht erhöhten Bettstatt nieder.
Ingvi brachte eine Kerze, und gemeinsam untersuchten sie das Bündel, dessen Umhüllung aus gewebtem Stoff bestand. Die Reise hatte dem Stoff nicht gut getan, doch obwohl er abgenutzt und verdreckt war, war er noch weich und fest, und im Kerzenlicht blitzten Goldfäden auf.
»Ein Altartuch«, sagte Unwin. Er wusste plötzlich, was sich in diesem Bündel befand. Er nahm sein Messer heraus und durchtrennte die Schnüre, die es zusammenhielten, und fing an, es auszupacken. Mit jeder Stofffalte, die sich löste, schlug ihnen ein stärker werdender Gestank entgegen.
»Bah!«, sagte Ingvi. »Das stinkt nach Tod.«
Als Unwin das letzte Stoffstück abgenommen hatte, bot sich ihnen
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