Susan Price
der Anblick eines langen, zerbrechlichen Objekts, das in Seide eingehüllt worden war. Ingvi erkannte es nur zögerlich als Seidengewand mit Verzierungen aus Goldfäden und Edelsteinen. Und dann erkannte er, dass der Inhalt dieses Gewands menschlichen Ursprungs war – oder gewesen war. Aus den Ärmeln quollen schwarz angelaufene Hände hervor, und die Seide umflog dünne Stiele, die einst Beine gewesen sein mochten. Das runde Ding am anderen Ende war ein Kopf, der auf die Größe eines Schädels geschrumpft und mit einem Schleier aus Leinen bedeckt war. Die Lippen hatten sich von den Zähnen zurückgezogen.
»Bei Gottes Gebeinen!«, sagte Ingvi. Er hatte während seiner Zeit am Hof König Loverns einige christliche Flüche aufgeschnappt.
Unwin legte Ingvi eine Hand auf die Schulter und deutete mit der anderen auf den Leichnam. »Ingvi – das ist Königin Ealdfrith, meine Mutter.«
»Mutter?«
Unwin ließ sich neben dem Kopf des Leichnams auf den Bettrand nieder. »Deine Mutter war eine Fremde. Meine war eine Heilige des Herrn. Hier liegt sie. Fillan ist ebenso ein Heiliger, denn er hat uns wieder zusammengeführt – oder hat er sie als Geschenk für König Lovern mitgebracht, damit sie seiner Kapelle als wertvolle Reliquie dienen soll?«
Jedes seiner Worte sprach Unwin überdeutlich aus, fast abgehackt, und jedes wurde mit solcher Wut gesprochen, dass Ingvi ihm eine Antwort schuldig blieb.
Unwin erhob sich und sprach in einem ruhigeren Ton weiter. »Ich muss mir Fillans Nachricht anhören.«
Ingvi stellte die Kerze auf einer Truhe ab und folgte ihm. Er schaute kurz zum Bett zurück und fragte: »Willst du nicht –?«
»Was?« , bellte Unwin, als er sich abrupt umdrehte.
Ingvi blieb stehen. »Aber … wirst du sie einfach so –?« Er nickte in Richtung des Leichnams.
»Was soll ich denn mit ihr machen? Mutter, möchtest du etwas zu essen haben? Möchtest du ein wenig Musik hören? – Siehst du? Sie will nichts. Also lassen wir sie in Ruhe. Andere aber –«, fügte er hinzu und öffnete die Tür, »– nicht.«
Die meisten Bediensteten im Saal schliefen bereits, denn es widerstrebte ihnen, die wenigen Stunden Schlaf und Wärme aufzugeben. Eins der Feuer aber hatte man geschürt, und dort fanden sie Vater Fillan. Er fror immer noch, obwohl er trockene Kleidung am Leib trug und offensichtlich auch gegessen hatte, denn neben ihm stand eine leere Schale.
Unwin war Ingvi so wütend vorgekommen, dass er von ihm nun gleichfalls zornige Worte erwartete. Aber Unwin setzte sich neben den Priester auf die Bank und sagte leise: »Nun, Vater? Wie lautet deine Nachricht?«
Der Priester ließ den Kopf hängen und seufzte schwer. »Die Nachricht? Ah, die Nachricht«, sagte er auf Englisch. »Es ist nichts Gutes an meiner Nachricht, mein Sohn. Der Teufel treibt in Eurem Land sein Unwesen und sucht nach jenen, die er verschlingen mag. Die kleine Kapelle Eurer Mutter hat man abbrechen lassen, die Erde, auf der sie stand, abgetragen und eine Eibe an ihrer Stelle gepflanzt. Ich sage Euch, in diesem Land ist kein Licht mehr zu sehen, denn die Dunkelheit ist zurückgekehrt.«
Unwin blinzelte langsam und sagte geduldig: »Und meine Familie?«
»Euer Vatersbruder, Athelric!«, sagte der Priester und wandte sich zu ihm. »Er war immer ein Heide, ohne jede Reue! An der Seite des Teufels findet Ihr ihn! Er folgt diesem Ding wie ein zahmer Hund und gehorcht ihm auf jedes Wort!«
Unwin musste wider Willen lächeln. »Das hört sich nicht nach Athelric an.«
»Ich schwöre es Euch!«, rief der Priester aus. »Sein eigener Wille hat sich in Nichts aufgelöst. Sein Geist ist verhext. So wie er vor dem Ding katzbuckelt, muss man glauben, er wäre darin verliebt!«
Ingvi machte es sich auf dem strohbedeckten Boden bequem, denn die Bänke waren zur Seite geschoben worden, damit die Leute sich schlafen legen konnten. Er hörte den beiden fasziniert zu. König Lovern war ein christlicher König, der zwischen den heidnischen Sachsen im Süden und den heidnischen Dänen im Osten lebte, und er verwendete viel Zeit darauf, sich von den Geschehnissen in beiden Königreichen berichten zu lassen. In den letzten fünf Jahren hatten ihm die Dänen wenig Sorgen bereitet, nachdem er sie geschlagen und Ingvi als Geisel genommen hatte, um den Frieden sicherzustellen. Seine Aufmerksamkeit beiden Völkern gegenüber ließ aber nie nach. Neuigkeiten wurden immer willkommen geheißen.
Vor Jahren hatte Lovern Vater Fillan zu den Mittelsachsen
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