Susan Price
der Elfengeborene, war gekommen, um nach seinem Halbbruder zu sehen, und hatte wieder die Hände auf ihn gelegt und nochmals versucht, ihm zu helfen – doch hatte ihn das so geschwächt, dass seine Knie weich wurden und er zusammenbrach. Er hatte Wulfweard auf dem Schlachtfeld vor dem Sterben gerettet, doch jetzt konnte er nach seinen eigenen Worten nichts mehr für ihn tun. Die Priesterinnen sangen weiter in der vom Kerzenlicht erhellten Nacht. Während sie sangen, beteten sie, der Morgen möge kommen. Oft kam mit dem neuen Tag neue Stärke, selbst für die Sterbenden. Doch sollte der Tod kommen, dann sollte es so sein. Es lag im Ermessen der Göttin, die Toten auszuwählen.
In einer dunklen Ecke neben einem Vorratsraum lag Ebba im Schmutz und weinte, bis ihre Kraft sie verließ. Ruhiger geworden, setzte sie sich auf, wischte das Gesicht ab, wobei sie es noch schmutziger machte, und schwor wild entschlossen, dass sie nie wieder eine Träne vergießen würde, nicht für Elfling oder einen anderen Mann. Aber dann flossen die Tränen erneut. Oft schrie sie, halb von Tränen erstickt, dass sie ihm so wehtun würde, wie er ihr wehgetan hatte – und sogleich nahm sie die Worte zurück. Doch der Wunsch kehrte stets wieder.
Elfling lag in den Privatgemächern des Königs, in dem geschnitzten und vergoldeten Bett, in dem sein Vater gestorben war. Er lag in den Armen der edlen Frau, der alten Vettel, der Geliebten, der Jungfrau und der Walküre. Im Halbschlaf flüsterte sie ihm ihre Pläne für die Zukunft ins Ohr. »Unwin …«, flüsterte sie und: »Athelric …«
Elfring rührte sich und fragte: »Und Wulfweard?«
»He!«, sagte sie lachend und flüsterte: »Ich erwähle die Toten.«
DAS HEER
DER TOTEN
Aus dem Englischen von
Marcel Bülles
UNWIN SASSENACH
Es herrschte so dichtes Schneetreiben, dass selbst die Dunkelheit weiß war. Der Reisende, dessen Kleidung der Schnee weiß getüncht hatte, rutschte aus, als er an seinem unglücklichen, erschöpften Esel zerrte. Beide waren völlig durchnässt, hungrig, mitgenommen, und ihnen war so kalt, dass sie sich kaum noch bewegen konnten.
Als sich Mauern und Torhaus der königlichen Festung in den weißen Wirbeln des Schneesturms düster abzeichneten, weinte der Reisende und schickte ein Dankesgebet gen Himmel. Ihm war nicht bewusst gewesen, wie nah er ihr schon war, aber als er mit seinem Esel das Tor erreichte, fand er es verschlossen vor.
Vor dem Tor hing eine Laterne, deren schwaches Licht im Schneesturm kaum zu erkennen war. Neben ihr hing ein Glockenstrang, und der Priester zog daran, obwohl seine Finger ihn kaum zu greifen vermochten. Der Schnee dämpfte das laute Dröhnen der Glocke zu einem leisen Bimmeln.
Ein kleines Viereck auf Augenhöhe öffnete sich klappernd. Im Lichtschein der Laterne war eine Nase zu erkennen, die neugierig durch die Öffnung gesteckt wurde.
»Wer begehrt Einlass?«
Der Reisende lehnte sich an die Tür. »Ich bin Priester. Mein Name ist –«
»Was wollt ihr, Priester?«
»Lasst mich herein. Ich –«
»Das Tor ist bis zum Morgengrauen verschlossen und verriegelt. Es wird beim ersten Sonnenstrahl wieder geöffnet.«
»Aber ich kann nicht – wartet, wartet!« Die kleine Öffnung begann sich zu schließen. »Es ist kalt, es schneit –«
»Morgen beim ersten Sonnenstrahl«, sagte der Torwächter.
»Nennt Ihr das Gastfreundschaft?«, schrie der Priester.
»Erreicht das Tor vor Sonnenuntergang«, meinte der Torwächter, »und Ihr werdet in allen Würden empfangen. Aber wir sind hier in einer königlichen Festung, nicht in einer heruntergekommenen Kaschemme. Bei Sonnenuntergang wird das Tor verschlossen. Beim ersten Sonnenstrahl wird es wieder geöffnet.«
»Ich werde hier draußen erfrieren.«
Ein verärgertes Zischen war durch die kleine Öffnung zu hören. »Geht zur Brücke zurück und überquert sie. Zur rechten Hand werdet Ihr ein Gästehaus finden, in dem Ihr Decken, etwas zu essen und Holz finden werdet, alles, was Ihr braucht. Aber dieses Tor öffnet sich nicht vor Sonnenaufgang.«
Das Türchen begann sich wieder zu schließen. »Ich muss aber hinein!«, schrie der Priester. »Ich habe eine Nachricht zu überbringen – ist es denn nicht wahr, sagt es mir, dass Unwin Sassenach sich unter Eurem Dach befindet?« Das Schweigen des Torwächters war ihm Antwort genug. »Ich habe Nachrichten für Unwin. Sagt ihm, dass ich hier bin, dass Vater Fillan hier ist. So wahr Gott Euer Schöpfer ist, bitte ich Euch, tut
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