Susannah 4 - Auch Geister lieben süße Rache
ich erwartete, als ich den ersten in die Hand nahm. Aber vielleicht wusste ich in meinem tiefsten Inneren längst, was ich vorfinden würde.
Trotzdem war mir, als ich das Papier auffaltete und die Worte Lieber Hector las, als hätte sich jemand von hinten an mich herangeschlichen und mich getreten.
Ich musste mich hinsetzen. Atemlos ließ ich mich in einen der Sessel sinken, die in Moms und Andys Schlafzimmer vor dem Kamin standen. Mein Blick war auf die vergilbte Seite vor mir geheftet.
Jesse. Die Briefe waren an Jesse gerichtet.
»Suze?« Mom sah mich besorgt an und schmierte sich Creme ins Gesicht. »Alles klar bei dir?«
»Ja, alles bestens«, stieß ich hervor. »Hast du … hast du was dagegen, wenn ich eine Weile hier sitzen bleibe und die Briefe lese?«
Mom klatschte sich einen Klecks Creme auf den Handrücken. »Nein, natürlich nicht«, sagte sie. »Und dir geht’s wirklich gut? Du siehst blass aus.«
»Nein, alles okay«, log ich. »Mir geht’s prima.«
Lieber Hector, lautete die Anrede im ersten Brief. Die Handschrift war wunderschön - geschwungen und altmodisch, ganz so, wie unsere Lehrerin Schwester Ernestine
schrieb. Ich konnte sie leicht entziffern, obwohl der Brief auf den 8. Mai 1850 datiert war.
1850! In dem Jahr ist unser Haus erbaut und als Pension für die Reisenden, die in die Gegend um Monterey kamen, in Betrieb genommen worden. In demselben Jahr ist Jesse (oder Hector, wie er mit richtigem Namen heißt, also wirklich: Hector!) auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Das haben Schweinchen Schlau und ich nachgelesen.
Aber zufällig weiß ich, dass an Jesses Verschwinden im Grunde nichts Geheimnisvolles ist. Er ist ermordet worden, und zwar in diesem Haus - oben in meinem Zimmer, um genau zu sein. Deswegen hängt er seit anderthalb Jahrhunderten hier herum und wartet auf …
Ja, worauf eigentlich?
Auf dich , sagte eine leise Stimme in meinem Hinterkopf. Auf einen Mittler, der diese Briefe findet und Jesses Tod rächt, damit er dahin abwandern kann, wo er seinen letzten Frieden findet.
Der Gedanke erfüllte mich mit Entsetzen. Meine Handflächen waren mit einem Mal schweißnass, obwohl es in Moms und Andys Schlafzimmer ziemlich kühl war, weil die Klimaanlage voll aufgedreht war. Die Haut in meinem Nacken prickelte widerlich.
Ich zwang mich, wieder auf den Brief zu sehen. Wenn es für Jesse Zeit war, abzuwandern, dann würde ich ihm eben dabei helfen müssen. Schließlich war das mein Job.
Andererseits ging mir Pater Dominic nicht aus dem Kopf. Ein paar Monate zuvor hatte er mir gestanden, dass er mal das Pech gehabt hatte, sich in einen Geist
zu verlieben, und zwar als er ungefähr in meinem Alter gewesen war. Natürlich hatte das Ganze nicht hingehauen - wie auch? -, woraufhin er Priester geworden war.
Alles klar? Priester , ja? So schlimm war es also gewesen. Er hatte den Verlust einfach nicht verkraftet und war deswegen Priester geworden.
Dabei hätte ich ehrlich gesagt keine Ahnung, wie ich Nonne werden sollte. Erstens bin ich nicht mal katholisch. Und zweitens steht mir streng zurückgekämmtes Haar einfach nicht. Echt. Deswegen vermeide ich es immer, Pferderschwanz und Haarreifen zu tragen.
Das reicht jetzt, sagte ich mir. Hör auf zu denken und lies.
Und das tat ich dann auch.
Den Brief hatte eine gewisse Maria geschrieben. Über Jesses Leben vor dem Tode wusste ich nicht viel - er redete nämlich gar nicht gern darüber -, aber ich wusste sehr wohl, dass Maria de Silva das Mädchen war, das er hatte heiraten wollen. Auf dem Weg zur Hochzeit war er dann ermordet worden. Maria war seine Cousine. Ich hatte mal ein Bild von ihr in einem Buch gesehen. Echt heiße Schnitte, zumindest für ein Mädchen im Reifrock und weit vor dem Zeitalter der plastischen Chirurgie. Und der Maybelline-Schminkserie.
Aus der Art, wie sie schrieb, meinte ich herauszulesen, dass sie das selber auch wusste. Dass sie sexy war, meine ich. In dem Brief ging es um allen möglichen Feiern, auf denen sie gewesen war, und darum, wer was über ihre neue Haube gesagt hatte. Ihre Haube! Ehrlich, wenn
man die ganzen altertümlichen Wörter beiseiteließ, die da drin standen, und die Tatsache, dass Ricky Martin nicht erwähnt wurde, hätte der Brief genauso gut von Kelly Prescott stammen können. Außerdem war einiges total falsch geschrieben. Maria mochte eine heiße Braut gewesen sein - ein Rechtschreib-Ass war sie, ihrem Brief nach zu urteilen, eindeutig nicht gewesen.
Es erschien mir unmöglich,
Weitere Kostenlose Bücher