Susannah 4 - Auch Geister lieben süße Rache
dass die Verfasserin dieses Briefes dieselbe Person sein sollte, die den Anschlag auf ihren Verlobten in Auftrag gegeben hatte. Denn ich wusste zufällig, dass Maria Jesse überhaupt nicht hatte heiraten wollen, sondern einen anderen Typen, einen gewissen Diego, der seinen Lebensunterhalt mit Sklavenhandel verdiente. Echt entzückender Charakter. Ich vermutete stark, dass Diego Jesse ermordet hatte.
Jesse selbst hatte nie über das Thema gesprochen - und auch sonst nicht über irgendwas aus seiner Vergangenheit. Die Frage, wie er zu Tode gekommen sei, ließ ihn sofort verstummen. Ich konnte es ihm kaum verübeln: Ermordet zu werden, war bestimmt ein traumatisches Erlebnis.
Aber andererseits war es echt schwer, herauszufinden, warum er immer noch hier rumlungerte, wenn er absolut nichts zur Wahrheitsfindung beitrug. Alles, was ich wusste, hatte ich einem Buch über die Geschichte von Salinas County entnehmen müssen, das Schweinchen Schlau in der örtlichen Bücherei aufgetrieben hatte.
Deswegen erfüllten mich Marias Briefe jetzt mit einer dunklen Vorahnung. Ich war sicher, dass ich darin
irgendeinen Hinweis auf seine Ermordung finden würde - der gleichzeitig offenlegte, wer der Mörder war.
Aber der letzte Brief erwies sich als genauso einfältig wie die anderen vier. Nichts, gar nichts wies darauf hin, dass Maria sich irgendwas zuschulden hätte kommen lassen - außer vielleicht, dass sie es versäumt hatte, jemals richtig schreiben zu lernen. Was wohl kaum als Verbrechen gelten konnte.
Vorsichtig faltete ich die Briefe wieder zusammen und legte sie zurück in die Blechschachtel. Weder prickelte mein Nacken noch waren meine Hände schweißnass. War das die Erleichterung darüber, dass ich nichts Erhellendes gefunden hatte, nichts, was mir geholfen hätte, das Geheimnis um Jesses Tod zu lüften?
Wahrscheinlich. Egoistisch, klar, aber so war es nun mal. Ich wusste nicht mehr als vorher - außer, welches Kleid Maria de Silva zu einer Feier im Haus des spanischen Botschafters getragen hatte. Wieso legte jemand solche unbedeutenden Briefe in eine Zigarrenschachtel und vergrub sie im Garten? Das ergab einfach keinen Sinn.
»Interessant, nicht?«, meinte Mom, als ich aufstand.
Ich erschrak mich fast zu Tode. Ich hatte komplett vergessen, dass sie da war. Sie lag mittlerweile im Bett und las ein Buch, das davon handelte, wie man sich seine Zeit effektiver einteilte.
»Ja«, entgegnete ich und legte die Schatulle wieder auf Andys Kommode. »Wirklich interessant. Ich bin so froh, dass ich jetzt weiß, was der Botschaftersohn gesagt
hat, als er Maria de Silva in ihrem neuen silbernen Ballkleid erblickte.«
Mom betrachtete mich überrascht durch ihre Lesebrille. »Oh, hat sie ihren Nachnamen doch irgendwo erwähnt? Andy und ich haben ihn nämlich nicht gefunden. De Silva, hast du gesagt?«
Ich blinzelte. »Ähm … nein, der Name steht da nirgends. Aber Schwein… ich meine, David hat mir mal von der Familie de Silva erzählt, die zu der Zeit in Salinas gelebt hat, und die hatten eine Tochter namens Maria, und deswegen dachte ich …« Ich verstummte, als Andy ins Zimmer kam.
»Hey, Suze«, sagte er, sichtlich überrascht über meine Anwesenheit im Schlafzimmer. Schließlich hatte ich vorher noch nie einen Fuß hier reingesetzt. »Hast du die Briefe gelesen? Süß, nicht?«
Süß? Oh Mann. Süß.
»Ja«, sagte ich. »Ich geh dann mal. Gute Nacht.«
Ich konnte gar nicht schnell genug rauskommen. Wie schafften es bloß andere Kinder, deren Eltern mehr als einmal heirateten, mit der Situation klarzukommen? Ich meine, Mom war erst in zweiter Ehe verheiratet, und ihr Mann war echt nett. Und trotzdem fühlte es sich für mich total verrückt an.
Meine Hoffnung, mich schnell in mein Zimmer verziehen zu können, um allein und in Ruhe über alles nachzudenken, wurde aber schnell zerschlagen. Als ich reinkam, saß Jesse schon auf meinem Fensterbrett.
Er sah dabei so heiß aus wie immer, mit seinem weißen, bis tief hinunter offen stehenden Hemd, der schwarzen
Toreador-Hose, die er immer anhat - na ja, umziehen kann man sich im Jenseits ja schlecht -, dazu den kurzen dunklen Haaren, die sich in seinem Nacken kringeln, den tiefschwarzen Augen, die unter seinen gleichermaßen tiefschwarzen Brauen hervorblitzen, der schmalen weißen Narbe über einer Augenbraue …
Ich gebe zu, ich träume immer wieder davon, diese Narbe mit dem Finger nachzufahren.
Als ich hereinkam, sah Jesse hoch - mein Kater Spike lag auf seinem
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