Susannah 4 - Auch Geister lieben süße Rache
Oder doch? Stattdessen sagte ich: »Ich hab heute einen anderen Mittler kennengelernt, und das hat mich irgendwie total durcheinandergebracht.«
Dann drehte ich mich zu ihm und erzählte ihm von Jack.
Jesse hörte gebannt zu und sagte dann, ich müsste Pater Dominic unbedingt davon erzählen. Aber ich hätte Pater Dom natürlich viel lieber von den Briefen erzählt. Nur dass ich das nicht tun konnte, solange Jesse im Zimmer war, sonst hätte er ja erfahren, dass ich in seinen Sachen rumgeschnüffelt hatte. Wenn man seine ganze Heimlichtuerei um seine Todesart bedenkt, hätte ihm das bestimmt nicht sonderlich gefallen.
»Gute Idee«, sagte ich also, nahm das Telefon und wählte Pater Dominics Nummer.
Der ging allerdings nicht ran. Sondern eine Frau. Ich war erst total schockiert - Pater Dom in wilder Ehe? Aber dann fiel mir ein, dass im Pfarrhaus außer ihm noch diverse andere Leute lebten.
»Ist Pater Dominic zu sprechen?«, fragte ich in der Hoffnung, dass die Novizin - oder wer auch immer dran war - kommentarlos den Hörer weglegen und Pater Dominic an die Strippe holen würde.
Aber es war keine Novizin, sondern Schwester Ernestine. Die Stellvertretende Direktorin meiner Schule. Sie erkannte mich sofort an der Stimme.
»Susannah Simon«, sagte sie. »Wie kommen Sie dazu, Pater Dominic zu solch einer Uhrzeit anzurufen? Wissen Sie überhaupt, wie spät es ist, junge Dame? Beinahe zweiundzwanzig Uhr!«
»Ich weiß«, entgegnete ich. »Es ist nur …«
»Außerdem ist Pater Dominic gar nicht da«, fuhr sie fort. »Er ist auf Exerzitien.«
»Exerzitien?« Ich stellte mir vor, wie Pater Dominic mit lauter anderen Priestern in Sandalen um ein Lagerfeuer hockte und » Kumbaya My Lord« schmetterte.
Aber dann fiel mir ein, dass Pater Dominic mir schon von den Exerzitien erzählt hatte - er wollte sich mit den Leitern anderer katholischer Schulen treffen. Er hatte mir sogar eine Nummer von dort gegeben, für den Fall, dass es einen Geister-Notfall gab und ich ihn dringend sprechen musste. Die Entdeckung eines neuen Mittlers fiel meiner Meinung nach nicht unter Notfall, aber … Pater Dominic würde das sicherlich anders sehen. Also bedankte ich mich bei Schwester Ernestine, entschuldigte mich für die Störung und legte auf.
»Was sind Exerzitien?«, fragte Jesse.
Ich erklärte es ihm. Parallel dazu musste ich die ganze
Zeit daran denken, wie er im Krankenhaus meine Wange berührt hatte. Ob er das wohl aus Mitleid oder aus Zuneigung (und ich meinte damit mehr als freundschaftliche Zuneigung) getan hatte? Oder wie oder was?
Denn obwohl Jesse seit hundertfünfzig Jahren tot ist, ist er echt heiß - noch viel heißer als Paul Slater … Oder vielleicht kommt es mir nur so vor, weil ich in ihn verliebt bin?
Jedenfalls - Jesse ist echt eine Augenweide. Er hat sogar tolle Zähne für jemanden, der vor Erfindung der Fluorid-Zahnpasta gelebt hat, ganz weiß und gleichmäßig und gesund. Wenn an meiner Schule ein paar Typen wären, die auch nur ansatzweise so aussehen würden wie Jesse, käme mir der Schulbesuch garantiert nicht wie die Zeitverschwendung vor, die er nun mal ist.
Aber es nützt nichts, dass Jesse so umwerfend aussieht. Er ist und bleibt nun mal ein Geist. Und ich die Einzige, die ihn sehen kann. Ich werde ihn nie meiner Mutter vorstellen können, mit ihm zum Abschlussball gehen oder ihn heiraten oder was auch immer. Wir haben keine gemeinsame Zukunft.
Das muss ich mir immer wieder in Erinnerung rufen.
Aber manchmal fällt es mir verdammt schwer. Vor allem wenn er so vor mir sitzt, mir zuhört und lacht und diesen blöden stinkenden Kater krault. Jesse ist der erste Mensch, den ich in Kalifornien kennengelernt habe, und mein erster echter Freund hier. Er ist immer für mich da, wenn ich ihn brauche, was man von den meisten meiner lebenden Bekannten nicht behaupten kann. Und wenn ich eine Person benennen müsste, die
ich auf eine einsame Insel mitnehmen würde, bräuchte ich keine Sekunde zu zögern: natürlich Jesse.
An all das dachte ich, während ich ihm erklärte, was Exerzitien waren. Und wie es zum Vietnam-Krieg und zum Zusammenbruch des Kommunismus in der früheren Sowjetunion gekommen war. Es ging mir auch nicht aus dem Kopf, als ich mir später die Zähne putzte und mich bettfertig machte, als ich Jesse Gute Nacht sagte, unter die Decke kroch und das Licht ausknipste. Erst als der Schlaf mich übermannte, wurde ich endlich von dieser Grübelei erlöst. Die Nachtstunden waren momentan die
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