Susannah - Auch Geister koennen kuessen
Blick auf eine Narbe, die die Augenbraue in zwei Hälften teilte. Es sah aus, als wäre jemand mal mit einem Messer auf Jesses Gesicht losgegangen. Irgendwie konnte ich den Angriffswunsch sogar nachvollziehen. Vor allem als Jesse kichernd sagte: »Das glaube ich eher nicht, querida . In diesem Fall jedenfalls nicht.«
Ich hob beide Hände. »Okay. Also, erstens: Wirf mir keine spanischen Namen an den Kopf. Zweitens: Du weißt ja nicht mal, wohin ich will, also schlage ich vor, du machst dich jetzt einfach vom Acker.«
»Aber sicher weiß ich, wohin du willst, Susannah. Du willst zur Schule, um mit dem Mädchen zu sprechen, das den Jungen umbringen will, den sie mal … gemocht hat. Aber das kann ich dir sagen, querida : Die ist zu groß für dich allein. Wenn du schon hingehst, solltest du wenigs tens den Priester mitnehmen.«
Ich starrte ihn fassungslos an. Wahrscheinlich traten mir vor Verblüffung schier die Augen aus den Höhlen. »Was?«, stammelte ich. »Woher weißt du das alles? Bist du jetzt so 'ne Art Stalker geworden oder was?«
Er muss mir angesehen haben, dass er das alles lieber nicht hätte sagen sollen, denn er richtete sich auf und sagte: »Ich weiß nicht, was das ist, ein Stalker. Ich weiß nur, dass du dich in große Gefahr begibst.«
»Du hast mich verfolgt und beobachtet.« Ich reckte ihm anklagend einen Zeigefinger entgegen. »Stimmt's? Mann, ein älterer Bruder reicht mir völlig, danke schön. Ich kann das nicht gebrauchen, dass du mir nachspionierst …«
»Aber klar doch«, unterbrach mich Jesse bissig. »Dein älterer Bruder hat auch sehr viel für dich übrig. Ungefähr so viel wie für seinen Schlaf.«
»Hey!« Zu meiner eigenen Überraschung verteidigte ich Schlafmütz sofort. »Er arbeitet nachts, okay? Er spart auf einen Camaro!«
Jesse machte eine Handbewegung, die 1850 garantiert ordinär gewesen sein musste. »Du gehst jedenfalls nirgendwohin«, sagte er.
»Ach ja?« Ich wirbelte herum und stürzte zur Tür. »Dann versuch mich doch aufzuhalten, du stinkende Leiche!«
Er machte seine Sache wirklich gut. Ich hatte gerade erst den Türknauf umfasst, als der Riegel zuschnappte. Mir war bisher noch nicht mal aufgefallen, dass man meine Tür abschließen konnte – musste wohl ein uraltes Schloss sein. Jedenfalls gab es dazu keinen Griff und der Schlüssel existierte bestimmt auch seit Jahrhunderten nicht mehr.
Ich stand eine Weile wie benommen da und starrte auf meine Hand, die sinnlos am Türknauf rüttelte. Dann holte ich tief Luft, um meinen Kopf frei zu kriegen, genau wie Moms Psychologin es mir beigebracht hatte. Natürlich hatte sie mir nicht geraten, es im Umgang mit einem Geist anzuwenden, sondern so allgemein, immer wenn ich mich in einer Stresssituation befand.
Aber es half tatsächlich. Ziemlich sogar.
»Okay.« Ich drehte mich zu Jesse um. »Hör zu, das war eben extrem uncool.«
Er schaute ziemlich verlegen drein. Ich sah ihm an, dass ihm das, was er getan hatte, auch nicht gerade gefiel. Was auch immer ihn sein Leben gekostet hatte – Grausamkeit oder Spaß an Gewalt war es jedenfalls nicht gewesen. Jesse war ein guter Mensch. Oder versuchte, es zumindest zu sein.
»Ich kann nicht anders«, sagte er. »Susannah, geh da nicht hin. Diese Frau … dieses Mädchen … Heather … Sie ist anders als die Geister, denen du früher vielleicht begegnet bist. Sie ist hasserfüllt. Sie würde dich bei der erstbesten Gelegenheit töten.«
Ich lächelte ihn aufmunternd an. »Dann muss ich ihr eben zuvorkommen und sie endgültig ins Jenseits befördern. Na komm schon, schließ die Tür auf.«
Er zögerte. Eine Sekunde lang dachte ich, er würde es tun. Aber da hatte ich mich geirrt. Er stand da und sah mich unbehaglich, gleichzeitig aber auch fest entschlossen an.
»Wie du willst.« Ich ging um ihn herum zu dem Fenster, das auf die Bucht hinausschaute, stellte einen Fuß auf die Fensterbank, die Andy gebaut hatte, und schob die mittlere Scheibe hoch. Ein Bein hatte ich schon nach draußen geschwungen, als ich plötzlich Jesses Hand spürte, die mein Handgelenk umklammerte.
Ich wandte mich zu ihm um. Meine Nachttischlampe stand hinter ihm, sodass ich sein Gesicht nicht erkennen konnte, aber es reichte schon, seine Stimme zu hören und den sanften, bittenden Ton darin.
»Susannah«, sagte er.
Mehr nicht. Nur meinen Namen.
Ich brachte kein Wort heraus. Es ging nicht. Ich meine, theoretisch wäre es schon gegangen, schließlich war es ja nicht so, als hätte ich
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