Susannah - Auch Geister koennen kuessen
oder so was …
Wahrscheinlich war das nicht gerade taktvoll – mir hatte sowieso noch nie jemand unterstellt, ich sei besonders taktvoll –, aber als wir die lange gekieste Einfahrt zum Haus hochstiefelten, fragte ich ihn auf einmal: »Hey, wie bist du eigentlich gestorben?«
Er schwieg. Vermutlich hatte ich ihn gekränkt. Mir war schon öfter aufgefallen, dass Geister nicht gern darüber reden, wie sie aus dem Leben geschieden sind. Manchmal können sie sich auch nicht dran erinnern. Die Opfer von Autounfällen haben zum Beispiel meistens keine Ahnung, was mit ihnen passiert ist. Deswegen lungern sie herum und suchen krampfhaft nach den Leuten, die mit ihnen im Auto gesessen haben. Ich muss ihnen erklären, wie die Sache abgelaufen ist, und dann versuchen rauszufinden, wer die Leute sind und wo sie stecken. Was echt ziemlich umständlich ist. Ich muss zum Polizeirevier, das den Unfall aufgenommen hat, und jemandem unter dem Vorwand, ich würde für ein Schulprojekt recherchieren, die Namen der Betroffenen rauslocken. Und dann muss ich rauskriegen, was mit ihnen ist.
Ich sage euch, manchmal hab ich das Gefühl, die Arbeit hört nie auf.
Jedenfalls – Jesse sagte eine ganze Weile gar nichts, und ich dachte schon, er wird es mir nie erzählen. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, auf das Haus – das Haus, in dem er gestorben war und in dem er verdammt war herumzuspuken, bis … na ja, bis er eben das erledigt haben würde, was er in dieser Zwischenwelt noch zu erledigen hatte.
Der Mond stand jetzt ziemlich hoch am Himmel und strahlte immer noch hell, sodass ich Jesses Gesicht fast wie bei Tageslicht mustern konnte. Viel anders als sonst sah er nicht aus. Die Mundwinkel – er hatte dünne Lippen, aber einen großen Mund – zeigten ein bisschen nach unten, aber das taten sie eigentlich immer, soweit ich das beurteilen konnte. Und die dicht bewimperten Augen unter seinen schimmernden schwarzen Brauen verrieten genauso viel oder so wenig wie ein Spiegel: Ich konnte mich selbst darin sehen, aber keinen Hinweis darauf, was in Jesses Kopf vorging.
»Ähm«, stammelte ich. »Vergiss es. Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst …«
»Nein, ist schon gut«, sagte er.
»Ich bin nur neugierig. Aber wenn dir die Frage zu intim ist …«
»Nein, ist sie nicht.« Wir waren mittlerweile vor dem Haus angekommen. Jesse schob das Fahrrad zum Autounterstand und lehnte es gegen die Mauer. Er war tief im Schatten verborgen, als er sagte: »Dieses Haus war nicht immer das Zuhause einer Familie, weißt du?«
»Ach, wirklich?«, sagte ich, als hörte ich das zum ersten Mal.
»Ja, früher war es mal ein Hotel. Na ja, oder eher eine Pension.«
»Und du hast als Gast hier übernachtet?«, hakte ich nach.
»Ja.« Er trat aus dem Schatten heraus, sah mich aber nicht an, als er weitersprach, sondern blinzelte auf den Ozean hinaus.
»Und …«, drängte ich. »Dann ist während deines Aufenthaltes hier was passiert.«
»Ja.« Er wandte sich mir zu und bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick. »Aber das ist eine lange Geschichte«, sagte er schließlich, »und du musst sehr müde sein. Geh jetzt ins Bett. Morgen früh entscheiden wir dann, was wir wegen Heather unternehmen.«
Und der will mir was von gerecht und ungerecht erzählen!
»Augenblick mal«, sagte ich. »Ich gehe erst ins Bett, wenn du mir die Geschichte zu Ende erzählt hast.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist schon zu spät. Ich erzähl sie dir ein andermal.«
»Na super!« Ich hörte mich bestimmt an wie ein kleines Kind, das sich dagegen sträubte, von der Mutter ins Bett verfrachtet zu werden, aber das war mir egal. Ich war stinkig. »Du kannst doch nicht was anfangen und es dann nicht zu Ende erzählen. Du musst …«
Jesse lachte mich aus. »Geh jetzt schlafen, Susannah.« Er kam auf mich zu und schubste mich sanft in Richtung Eingangstreppe. »Du hast dich heute schon genug gegruselt.«
»Aber du …«
»Ein andermal.« Er hatte mich zur Veranda hin dirigiert und jetzt stand ich auf der untersten Stufe und sah zu ihm zurück. Er lachte immer noch.
»Versprochen?«
Seine Zähne blitzten im Mondlicht auf. »Versprochen. Gute Nacht, querida .«
»Du sollst mich nicht so nennen, hab ich gesagt«, grummelte ich, während ich die Treppe hochstieg. Aber meine Empörung war jetzt, kurz vor drei Uhr morgens, nur noch gespielt, zu mehr hatte ich keine Kraft. In meinem Kopf war es nach wie vor drei Stunden später, New Yorker Zeit
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