Susannah - Auch Geister koennen kuessen
er.
Tja, damit war der magische Moment natürlich futsch. Ich riss verblüfft die Augen auf. Damit hatte ich nun wahrlich nicht gerechnet.
»Kann nicht sein«, sagte ich, denn ich spürte nicht den leisesten Schmerz. Dann sah ich an mir runter. Kleine Flecken zierten den Boden unter meinen Füßen. Man konnte im Dunkeln nur schwer erkennen, welche Farbe sie hatten, aber der Mondschein ließ sie schwarz wirken. Auf jeden Fall waren auf Jesses Hemd, wie mir jetzt zu meinem Entsetzen auffiel, ganz ähnliche Flecken zu sehen.
Und das Blut kam eindeutig von mir. Ich musterte mich von oben bis unten und entdeckte schließlich, dass ich es hingekriegt hatte, mir eine kleinere, aber trotzdem noch recht wichtige Vene am Handgelenk aufzuschlitzen. Ich hatte während des Gesprächs mit Heather meine Handschuhe ausgezogen und in die Taschen gestopft, und in meiner Hast, ihrem Racheakt zu entkommen, hatte ich vergessen, wieder reinzuschlüpfen. Und so hatte ich mich beim Sprung durchs Fenster an den Glassplittern, die immer noch zahlreich auf dem Sims lagen, verletzt, ohne es zu merken. Was meine Theorie wieder mal bestätigte, dass der Weg zurück nach draußen immer gefährlicher ist als der hinein.
»Oh«, sagte ich und starrte auf das Blut. »Was für eine Sauerei. Tut mir leid wegen deinem Hemd.« Was anderes fiel mir nicht ein.
»Das macht nichts.« Jesse holte aus der Tasche seiner dunklen, eng sitzenden Hose etwas Weißes, Weiches hervor, was er mir mehrmals fest um das Handgelenk schlang und dann mit einem ziemlich gekonnten Knoten festmachte. Er sagte dabei kein Wort, sondern konzentrierte sich auf das, was er tat. Das war das allererste Mal, dass ein Geist mir Erste Hilfe leistete. Nicht ganz so spannend, wie ein Kuss es hätte sein können, aber auch nicht gerade langweilig.
»So«, sagte Jesse, als er fertig war. »Tut's weh?«
»Nein«, sagte ich, und das stimmte. Ich wusste aus Erfahrung, dass das erst in ein paar Stunden anfangen würde wehzutun. Ich räusperte mich. »Danke.«
»Keine Ursache.«
»Nein, ich meine, wirklich …« Aus irgendeinem lachhaften Grund war mir plötzlich zum Heulen. Und ich weine sonst nie. »Im Ernst. Ich danke dir. Dafür, dass du mir hierher gefolgt bist und mir geholfen hast. Das hättest du nicht tun müssen. Ich meine, ich bin froh, dass du es trotzdem getan hast. Also … danke. Das wollte ich nur sagen.«
Jesse wirkte völlig verlegen. Was angesichts meiner sentimentalen Ansprache vermutlich nur natürlich war. Aber ich konnte es auch echt nicht fassen: Noch nie war ein Geist so nett zu mir gewesen. Okay, mein Dad hatte es immer wieder versucht, klar. Aber Dad konnte man nicht wirklich verlässlich nennen. Auf ihn konnte ich nicht hundertprozentig zählen, vor allem nicht in Krisensituationen.
Auf Jesse offenbar schon. Jesse war mir zu Hilfe geeilt. Und zwar ohne dass ich ihn darum gebeten hätte. Im Gegenteil, ich war ziemlich ätzend zu ihm gewesen.
Und trotzdem sagte er jetzt nur: »Gern geschehen.« Und fügte nach einer Pause hinzu: »Lass uns jetzt nach Hause gehen.«
KAPITEL
12
L ass uns nach Hause gehen.
Irgendwie fühlte sich der Satz ziemlich heimelig an.
Nur dass dieses Zuhause sich für mich noch gar nicht so nach zu Hause anfühlte. Wie auch? Ich war doch erst ein paar Tage zuvor eingezogen.
Und natürlich hätte er da überhaupt nicht zu Hause sein sollen.
Aber, Geist hin oder her, er hatte mir das Leben gerettet. Da biss die Maus keinen Faden ab. Er hatte es zwar wahrscheinlich nur getan, damit er bei mir einen Stein im Brett hatte und ich ihn nicht endgültig aus dem Haus jagte.
Aber aus welchem Grund auch immer – er hatte es getan und das war ziemlich nett von ihm gewesen. Noch nie hatte mir bisher jemand freiwillig geholfen – vermutlich hauptsächlich deswegen, weil keiner wusste, dass ich Hilfe brauchte. Nicht mal Gina, die immerhin dabei gewesen war, als Madame Zara mich zur Mittlerin erklärt hatte, hatte je geahnt, warum ich manchmal mit verquollenen Schlafaugen zur Schule kam oder wo ich mich rumtrieb, wenn ich die Schule schwänzte – was ich nur zu häufig tat. Und ich konnte es ihr ja auch schlecht erklären. Nicht dass Gina mich für verrückt gehalten hätte oder so, aber sie hätte es bestimmt jemandem erzählt. So ein Geheimnis kann man unmöglich für sich behalten, außer es betrifft einen selbst, und der oder die wiederum hätte es jemand anderem weitererzählt, und so weiter und so weiter, und über kurz oder lang hätte
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