Susannah Bd.3 - Auch Engel sind gefährlich
was das ist.«
Ich zog den Reißverschluss meiner Windjacke bis oben hin zu, um meinen Hals vor dem frostigen Nachtwind zu schützen. Klar hatten wir jetzt Frühling, aber hier auf
den Klippen waren es im Moment bestimmt nicht mehr als fünf Grad plus. Zum Glück hatte ich meine Handschuhe mitgenommen - zugegebenermaßen hauptsächlich als Schutz vor Giftsumach, aber jetzt leisteten sie mir einen willkommenen Zusatzdienst, indem sie verhinderten, dass mir die Finger abfroren.
»Was meinen Sie denn?« Daran, eine Mütze mitzubringen, hatte ich leider nicht gedacht, und meine Ohren fühlten sich an wie Eiszapfen, während der eisige Wind mir die Haare ins Gesicht und in die Augen peitschte.
»Schauen Sie sich das mal an.« Pater Dominic richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf einen knapp zwei Meter großen Fleck Erde, wo der Boden aufgewühlt und die Grashalme abgeknickt waren. »Ich glaube, genau hier ist die Leitplanke gelandet. Aber fällt Ihnen was Seltsames daran auf?«
Ich zerrte mir eine Haarsträhne aus dem Mund und sah mich weiterhin hektisch nach Schlangen um. »Nein.«
»Die Leitplanke scheint in einem einzigen Stück runtergekommen zu sein. Ein Fahrzeug muss schon ein ziemliches Tempo draufhaben, um die Metallabsperrung zu durchbrechen. Die Tatsache, dass das Ding am Stück nachgegeben hat, lässt darauf schließen, dass die Bolzen abgebrochen sind, die die einzelnen Teile verbinden.«
»Oder sie sind gelockert worden«, sagte Jesse leise.
Ich blinzelte zu ihm hoch. Ihm als Toten machte das Wetter hier nicht halb so viel aus wie mir. Die Kälte
kümmerte ihn nicht, und der Wind blies nur sein Hemd auf und gab stellenweise den Blick auf seine Brust frei, die - überflüssig zu erwähnen - mindestens genauso sexy war wie die von Michael, nur nicht so bleich.
»Gelockert?« Das war jetzt schon das zweite Mal an diesem Tag, dass meine Zähne klapperten. »Wie sollte das denn gehen? Durch Rost oder so?«
»Ich hatte eher an menschliche Handarbeit gedacht«, erwiderte Jesse leise.
Ich sah zwischen Geist und Priester hin und her. Pater Dominic wirkte genauso verblüfft wie ich. Jesse war zu dieser kleinen Expedition nicht ausdrücklich eingeladen worden, aber plötzlich an meiner Seite aufgetaucht, als ich mich auf den Weg gemacht hatte, um mich am vereinbarten Ort mit Pater Dom zu treffen. Pater Dominics Reaktion auf meinen Bericht - über den Mordanschlag auf Michael im Meer und die merkwürdigen Kommentare, die er später im Auto losgelassen hatte - war schnell und entschieden erfolgt. Wir müssten die RLS-Engel finden, hatte er verkündet, und zwar schleunigst.
Und natürlich ging das am besten dadurch, dass man den Ort aufsuchte, an dem sie gestorben waren. Ein Ort, den ein fünfundsechzigjähriger Priester und ein sechzehnjähriges Mädchen, wie Jesse sagte, lieber nicht allein aufsuchen sollten.
Keine Ahnung, wovor er meinte, uns durch seine Anwesenheit beschützen zu können: vor Bären? Aber nun war er also dabei, und er schien sich von dem, was hier
abgelaufen war, ein wesentlich besseres Bild machen zu können als ich.
»Was soll das heißen, Handarbeit?«, hakte ich trotzdem nach. »Wovon redest du?«
»Ich finde es einfach seltsam«, erwiderte Jesse, »dass hier angeblich ein ganzes Teilstück der Leitplanke nachgegeben haben soll, während der Rest, wie wir bei unserer Besichtigung gerade eben gesehen haben, bei dem Aufprall nicht einmal verbogen wurde.«
Pater Dominic blinzelte überrascht. »Wollen Sie damit sagen, dass jemand die Bolzen gelockert haben könnte, weil er schon damit rechnete, dass hier ein Fahrzeug durchbrechen würde?«
Jesse nickte. Ich brauchte noch eine knappe Minute, um zu kapieren, worauf er hinauswollte.
»Moment mal«, sagte ich. »Willst du damit andeuten, Michael hätte die Bolzen gelockert, damit er Josh und die anderen über die Klippen drängen konnte?«
»Auf jeden Fall hat irgendjemand das gemacht«, entgegnete Jesse. »Könnte genauso gut dein Michael gewesen sein.«
Das machte mich jetzt echt sauer. Und zwar nicht die Tatsache, dass er Michael so eine ungeheuerliche Tat unterstellte, sondern dass er ihn meinen Michael genannt hatte.
»Also jetzt mal langsam …«, begann ich. Aber Pater Dominic unterbrach mich sofort, was ihm eigentlich gar nicht ähnlich sah.
»Da muss ich Susannah jetzt mal recht geben, Jesse.
Fest steht doch nur, dass die Leitplanke ihre Funktion nicht erfüllt hat. Vielleicht lag ja ein ernsthafter Materialfehler vor.
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