Susanne Barden 02 Zeig, was du kannst
gingen weiter, nicht wahr?« warf Luise ein.
»Lassen Sie Hilda doch weitererzählen!« rief Connie ärgerlich.
»Zuerst sagte keine von den fünfen ein Wort«, fuhr Hilda fort. »Dann gab die Meyer einen sonderbaren Ton von sich. Ich weiß, daß sie es war, weil Fräulein Cameron fragte: >Schwester Meyer, was fehlt Ihnen? Warum stehen Sie da und schlucken und würgen? Ist Ihnen schlecht?< Die Meyer aber quiekte ganz komisch und sagte, sie kämen wegen der Unterröcke .« Hilda machte eine Atempause.
»Und dann?« fragte Kit.
»Also plötzlich redete die Meyer wie ein Wasserfall. Ich hätte ihr das niemals zugetraut. Sie sagte, es müßte ein Irrtum sein, denn die Unterröcke kämen gar nicht vor. Und sie - die Probeschwestern - wären nun zu Fräulein Cameron gekommen, um mit ihrer Hilfe die
Sache aufzuklären. Darauf rief Fräulein Cameron wütend: >Ihr Unterrock kommt ja schon wieder vor, Schwester Meyer!< Und glauben Sie es oder nicht« - Hilda schlug ihre dicken Hände zusammen und sah sich mit großen Augen im Kreise um - »diese Meyer sagte Fräulein Cameron ins Gesicht: >Er kann gar nicht vorgucken, Fräulein Cameron, denn ich habe ihn ausgezogen, bevor ich herkam.<«
»Donnerwetter!« riefjetzt sogar Luise aufgeregt. »Und dann?« »Dann flogen die Fetzen. Fräulein Cameron schrie, es wäre unerhört, daß die Mädchen ohne jede Unterwäsche im Krankenhaus umherliefen. Und darauf sagte sie - ich meine die Meyer -, etwas hätten sie wohl an. Und dann sprachen plötzlich alle auf einmal. Und die Meyer bat Fräulein Cameron wieder, sie möchte ihnen doch helfen, das Rätsel zu lösen. Und dann rief sie plötzlich laut: >Ach, Fräulein Cameron, da ist es, da ist es!< Und was glauben Sie wohl, was da war?«
»Wahrscheinlich Fräulein Camerons Unterrock, der schüchtern durchs Zimmer tanzte«, rief Kit.
»Nein, sie hatte ihn bestimmt an. Die Sache ist die: In Fräulein Camerons Zimmer steht ein neues Bücherregal neben der Tür. Davor hängt ein Vorhang aus weißer Seide. Nun steht aber jeder, der mit Fräulein Cameron spricht, direkt vor dem Regal. Infolgedessen sieht sie immer den Volant des Vorhangs unter dem Rock der vor ihr stehenden Schwester.«
»Natürlich!« rief Susy. »Wenn Fräulein Cameron sitzt, sieht sie nur den unteren Teil des Vorhangs, und es muß ihr so scheinen, als hinge etwas unter unseren Röcken hervor. Es war einfach eine optische Täuschung. Was sagte Fräulein Cameron denn dazu?«
»Ach, zuerst sagte sie nur >Stellen Sie sich einmal hierhin!< und >Gehen Sie einmal dorthin! < Es entstand eine große Bewegung in ihrem Zimmer. Dann rief sie plötzlich: >Also!< Ihr wißt ja, wie sie so etwas macht. Ihre Stimme klang wie ein Pistolenschuß, und es wurde mäuschenstill im Zimmer, als wären alle auf einmal erschossen worden. Nach einer Pause sagte sie mit ganz veränderter Stimme: >Es tut mir leid, Sie unnötig aufgeregt zu haben. Ich bitte Sie um Verzei- hung.< Es war einfach schneidig, das muß man sagen.«
»Sie ist großartig«, sagte Susy warm. »Und was geschah dann?« »Ihre Stimme wurde ganz freundlich. Sie sagte, sie freue sich, daß die Mädchen zu ihr gekommen wären, und sie lobte Meyer, weil sie die Sache mit dem Vorhang entdeckt hatte. Schließlich fragte sie, wer den Gedanken gehabt hätte, zu ihr zu kommen. Und eine der Probeschwestern sagte, es wäre Meyers Idee gewesen. Das schien
Fräulein Cameron sehr zu gefallen. Sie sagte, Meyer hätte dadurch bewiesen, daß sie Charakter hat. Und dann sagte sie noch: >Ich freue mich, daß ich mich in Ihnen geirrt habe, Schwester Meyer.< Hat man je so etwas gehört? Daß diese Meyer das fertiggebracht hat!«
»Von jetzt an wird sie es gut bei Fräulein Cameron haben. Sagte die Meyer noch etwas?«
»Ich weiß nicht. Sie gingen dann alle aus dem Zimmer. Und ich dachte - es wäre besser .«
»Wir verstehen schon.« Kit stand auf. »Sie brauchen uns nichts weiter zu erklären, Hilda. Essen Sie jetzt lieber etwas. Es ist zehn Minuten vor sieben. Wer kommt mit?«
»Ich«, sagten Connie und Susy wie aus einem Mund.
Während sie aus dem Speisesaal gingen, murmelte Connie: »Das hast du fein gemacht, Susy.«
Susy schmunzelte. »Ich habe Anni Meyer ins Leben hinausgeschubst.«
»Was ich besonders an dir schätze ist, daß du dein Licht immer unter den Scheffel stellst«, sagte Kit spöttisch.
»Meine Lichter, meinst du wohl. Na, laß nur, Kleines, wenn du erwachsen bist, geht dir vielleicht auch einmal ein Licht auf.«
Kit
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