Susanne Barden - 03 in New York
oder wollen Sie es lieber selber suchen?«
Susy zögerte nur ein paar Sekunden. Wäre Kit dabei gewesen, so hätte sie Fräulein Russell sagen können, daß Susy eisern zu einer Sache entschlossen war, wenn sie wie jetzt ihre Lippen zu einer einzigen straffen Linie zusammenpreßte. »Ich möchte lieber selbst darauf kommen«, antwortete sie. »Wenigstens will ich es versuchen. Wenn es mir nicht gelingt, werde ich mich wieder an Sie wenden.«
»Gut! Ich dachte mir, daß Sie gern allein damit fertig werden wollen.« Bald darauf ging Fräulein Russell zum Büro zurück und ließ Susy ihre übrigen Besuche allein machen.
In Gedanken versunken, stapfte Susy weiter durch alte Straßen, stieg treppauf und treppab. Was konnte sie tun, um Frau Krasnicki ihrer Apathie zu entreißen?
»Ich hab ja keine Ahnung, was ihr eigentlich fehlt«, dachte sie ratlos. »Aber ich werde es herausbekommen - und wenn es ein halbes Jahr dauern sollte!«
Freunde
Wie konnte Fräulein Russell nur behaupten, es wäre ganz einfach, Frau Krasnicki zu helfen? Susy fand es durchaus nicht einfach. Sobald die junge Frau aufgestanden war, versuchte Susy sie zu Spaziergängen zu bewegen. Sie brachte ihr polnische Romane aus der Leihbibliothek mit und redete ihr zu, hübsche Vorhänge für die Fenster zu nähen. Frau Krasnicki hörte apathisch zu, nährte das Kind und erwiderte kein Wort. Nun versuchte Susy etwas anderes. Wenn Frau Krasnicki einen Kinderwagen besaß, würde sie bestimmt Lust bekommen, damit auszugehen. War sie aber erst einmal draußen auf der belebten Straße, so würde sie auch Anteil am Leben nehmen. Es gab recht gute gebrauchte Kinderwagen, die nur fünf Dollar kosteten. Warum sollte Susy nicht einen kaufen? Frau Krasnicki nahm den Kinderwagen an. Sie schien sich sogar zu freuen und fuhr das Kind sofort aus - aber nur bis zur Haustür. Dort setzte sie sich auf die Treppenstufen, schaukelte den Wagen ein wenig und starrte mit leeren Augen in die fahle Wintersonne.
Susy war mit ihrem Latein zu Ende. »Aber ich werde nicht zu Fräulein Russell laufen«, dachte sie eigensinnig, »noch nicht! Ich muß es allein schaffen.« Sie bog von der belebten Straße ab in eine Grünanlage und setzte sich in einer stillen Ecke auf eine Bank. »Was ist denn mit mir los?« fragte sie sich. »Ich habe alles mögliche versucht und geplant - aber ich erreiche überhaupt nichts. Was kann ich denn nur tun?« Während sie so vor sich hingrübelte, fiel ihr ein, was einmal ein Assistenzarzt im Krankenhaus zu ihr gesagt hatte. Es war die Rede davon gewesen, wie man einen Patienten nach einer Operation am besten betten könnte. »Versuchen Sie sich selber in die Lage des Patienten zu versetzen«, hatte der junge Arzt gesagt. »Versuchen Sie sich vorzustellen, daß Sie mit der gleichen Schnittwunde in der gleichen Lage daliegen. Wenn Sie das können, wird Ihnen Ihr eigener Körper sagen, wo Sie ein Kissen unterlegen müssen.«
Dieselbe Methode müßte man doch auch bei einem seelischen Schmerz anwenden können, überlegte Susy. Man brauchte nur richtig mitzufühlen, dann konnte man auch helfen. Was mochte Frau Krasnicki wohl empfinden - zwanzig Jahre alt - freudlos dahinwelkend - in einem fremden Land - ohne Freunde?
Freunde! Susy sprang auf. Das war es! Frau Krasnicki müßte ein paar lebenslustige Frauen kennen; sie brauchte ein wenig Vergnügen. »Sie langweilt sich zu Tode, das ist ihr ganzer Kummer. Wenn ich die richtige Freundin für sie finden könnte - eine fröhliche,
freundliche Frau . Allerdings wohnen in diesem Viertel nicht
viele Polen.« Aber gewiß gab es hier eine Menge gutherziger Frauen. Die Nationalität spielte im Grunde keine Rolle, denn die Armen verstanden sich stets untereinander. Plötzlich lachte Susy laut. Warum sollte sie nicht einfach auf den Straßen nach einer Freundin für ihr Sorgenkind suchen?
Entschlossen hing sie ihre Tasche über den Arm und machte sich auf den Weg. Mit schnellen Schritten drängte sie sich durch ein paar verkehrsreiche Straßen und bog dann in eine schmale Gasse ein. Hier verlangsamte sie ihren Schritt und blickte prüfend in die Gesichter der vorüberkommenden Frauen. Sie sah viele freundliche Gesichter und viel mehr glückliche, als sie je auf der Fifth Avenue gesehen hatte. Da waren blonde Skandinavierinnen mit breiten zufriedenen Gesichtern ; da waren Italienerinnen mit blitzenden schwarzen Augen und lebhafte rothaarige Irinnen; da waren Jüdinnen, deren Augen einen scheuen Ausdruck hatten,
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