Susanne Barden 06 - Heiter bis bewölkt
»Dies heißt >sofort kommen!<«, erklärte sie lächelnd und bimmelte heftig. Da keine Antwort kam, läutete sie noch einmal. Als sich die Kinder aber auch dann noch nicht meldeten, wurde sie ärgerlich. »Liebe ist gut und schön, aber daß ich deshalb den Berg ’raufkraxeln muß, finde ich unerhört.«
»Den Kindern wird doch nichts passiert sein?« meinte Leila besorgt.
»Ach wo! Was sollte ihnen denn passieren? Dort oben gibt es weder Straßen noch Autos noch Wasser - außer ein paar kleinen Bächen - und auch keine Höhlen. Außerdem gehen die Kinder niemals über das Birkenwäldchen hinaus.« Susy läutete noch einmal, doch wieder ohne Erfolg.
»Warte, mein Bürschchen!« rief sie drohend. »Ich werde hinauflaufen und die beiden holen, Frau Murray. Nein, Jerry, du bleibst hier! Frau Murray hat nicht viel Zeit, und allein komme ich schneller vorwärts. Geh wieder zum Sandhaufen. Ich bin bald zurück.«
»Ich möchte mitkommen«, sagte Frau Murray.
Sie ließen den maulenden Jerry zurück, durchquerten den Gemüsegarten und kletterten den Hügel hinauf. Susy war daran gewöhnt. Aber Frau Murray begann bald zu keuchen, und als sie das Birkenwäldchen erreicht hatten, sank sie nach Luft ringend auf einen Felsblock.
»Jonny! Linde!« rief Susy.
Alles blieb still. Nur die Birkenblätter raschelten im Wind. Plötzlich war es Susy, als griffe eine kalte Hand nach ihrem Herzen. Doch energisch schüttelte sie alle furchtsamen Gedanken von sich ab. Selbst wenn die Kinder das Wäldchen verlassen hatten, konnten sie nicht weit gekommen sein.
Leila stand auf. Sie sah sehr bleich aus. »Vielleicht sind sie eingeschlafen«, sagte sie leise. »Dann werden sie uns nicht hören. Linde schläft immer sehr tief.«
»Jonny auch.« Susy glaubte jedoch nicht, daß Jonny eingeschlafen wäre. Falls Linde schlief, würde er neben ihr sitzen und sie bewachen. Sie klammerte sich an dieses friedliche Bild und versuchte die Angst zu unterdrücken, die sie von neuem ergriff. Mit klopfendem Herzen sah sie sich um. Wacholderbüsche, hohe Farne und Sumach versperrten die Sicht nach der einen Seite; auf der anderen standen dichte Heidelbeerbüsche und vereinzelte Felsblöcke. Jonny kletterte gern, wie alle Jungen. Wenn nun Linde, erschöpft von der ungewohnten Anstrengung, eingeschlafen und Jonny unterdessen aus Langeweile auf einen dieser ziemlich hohen Blöcke gestiegen war? Womöglich hatte er das Gleichgewicht verloren und war hinuntergestürzt! Susy schauderte bei diesem Gedanken.
»Wir wollen das Wäldchen durchsuchen«, sagte sie, verwundert, daß
ihre trockenen Lippen noch Worte formen konnten. »Gehen Sie dort hinunter. Ich werde diese Seite absuchen. Und rufen Sie nur immerfort, damit die Kinder aufwachen, falls wir sie übersehen.«
Rufend durchstreiften die beiden Frauen das Wäldchen. »Jonny! Linde!« hallte es durch die Stille. Dünn kam das Echo von einer entfernten Bergwand zurück. Doch von den Kindern kam keine Antwort. Abgebrochene Äste und heruntergetretenes Farnkraut ließen erkennen, daß sie durch das Wäldchen gegangen waren, aber jetzt befanden sie sich nicht mehr dort. In dem dahinter liegenden Nadelwald konnte man nicht sehen, welchen Weg sie genommen hatten. Der trockene Waldboden war glatt und hart und zeigte keine Spuren. An einigen Stellen waren die Tannennadeln auseinandergetreten, aber das konnten auch Tiere getan haben.
Susy und Leila gingen so weit in den Tannenwald hinein, bis sie befürchten mußten, sich zu verirren. Sie blieben nun dicht beieinander. Ihre Stimmen waren heiser vom vielen Rufen, und sie wagten sich nicht anzusehen. Susys Herz schlug wie rasend; ihr Mund war trocken. Wenn die Frauen nicht die Namen ihrer Kinder riefen, sprachen sie miteinander. Sie sprachen unaufhörlich vernünftige Worte, um die Schreckensbilder zu verscheuchen, die sich ihnen aufdrängten.
Endlich blieb Susy stehen. »Es hat keinen Zweck, weiterzugehen. Wir verlieren nur unnötig Zeit. Allzuweit können die Kinder ja nicht gelaufen sein. Wir wollen zurückgehen und Hilfe holen.«
Sofort drehte sich Leila um und begann blindlings zurückzulaufen. Susy unterdrückte ihre eigene Angst und ergriff sie am Arm. »Nicht laufen! Sie müssen Ihre Kräfte sparen, sonst brechen Sie auf halbem Weg zusammen.«
Leila sah sie mit einem wilden Blick an, doch als Susy ihren Griff nur noch verstärkte, lächelte sie schwach und murmelte: »Ja, Sie haben recht.«
Susy wußte später nicht mehr, welchen Weg sie gegangen
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