Suter, Martin
Rand trug es eine Lippenstiftspur. In dem Maraschinorot,
wie sie es an diesem Abend getragen hatte. Jojo schien für diese Nacht keine
Pläne mehr zu haben.
Und wieder lag Allmen in diesem fremden Bett neben dieser
fremden Frau. Ein Herbststurm war aufgekommen und rauschte durch die Pappeln,
die das Ufer säumten. Der Wind hatte den Himmel blankgefegt, und der fast volle
Mond legte durch den Vorhangzwischenraum einen bleichen Streifen auf den
Teppich.
Noch immer war ab und zu von unten der Lärm der
Gesellschaft zu vernehmen.
Er träumte von seinem Vater. Der fuhr hupend in einer
Staubwolke auf dem Feldweg, der zum Bauernhaus führte. Allmen kannte den
Wagen: Es war der fast neue cremefarbene Opel Kapitän, den sein Vater an dem
Tag gekauft hatte, an dem er den Verkaufsvertrag für den Schwarzacker unterschrieben
hatte.
Er steuerte mit der Linken, mit der Rechten hupte er oder
winkte durchs offene Fenster. Allmen stand als kleiner Junge vor der Haustür
und sah zu, wie der Wagen immer näher kam. Dann saß er plötzlich auf dem
Beifahrersitz neben seinem lachenden Vater. Und dann selber am Steuer und fuhr
auf seinen Vater zu, der lachend vor der Tür stand.
Allmen wollte bremsen, aber es gab keine Bremse. Also
hupte er.
Er schreckte aus dem Schlaf. Aber noch immer hupte es. Es
klang, als käme es aus dem Erdgeschoss.
Von Joelle drangen regelmäßige rauhe Atemzüge an sein Ohr.
Er knipste die Nachttischlampe an. Jojo lag in der gleichen Stellung da, in der
sie eingeschlafen war. Der Mund war leicht geöffnet, und auch die Lider waren
nicht vollständig geschlossen. Noch immer hupte es.
»Joelle«, flüsterte er. Dann in normaler Lautstärke:
»Joelle!« Sie reagierte nicht.
Allmen fasste sie an der rechten Schulter und schüttelte
sie. Keine Reaktion.
Das Hupen dauerte an. Jetzt in einer anderen Tonlage. Allmen
stand auf, ging zur Tür, die auf den Korridor führte, und öffnete sie leise.
Er schloss die Tür, ging vorsichtig zum Treppenabsatz und
sah in die Eingangshalle hinunter. Ein Mann um die vierzig stand an der offenen
Haustür und winkte. Eine Hupe antwortete ihm. Und eine zweite, in einer anderen
Tonlage.
Allmen hörte die Motoren der Autos leiser werden. Und
dann wieder lauter, sobald sie das Tor zum Grundstück hinter sich gelassen
hatten und auf der Straße beschleunigten.
Endlich wurde es still. Der Mann - der Bruder, wie Allmen
vermutete - schloss die Tür und wandte sich um. Er trug noch ein verlöschendes
Lächeln, das sich jetzt zu einem Gähnen verzerrte.
Allmen zog sich vom Treppenabsatz zurück, aber er ging
nicht ins Schlafzimmer. Er hörte den Bruder vor sich hinsummen. Eine Tür wurde
geöffnet. Das Gäste-WC, dem plätschernden Geräusch nach zu schließen, das kurz
darauf durch die offene Tür heraufdrang. Die Spülung wurde betätigt, die Tür
geschlossen, und dann vernahm er das Klappern der Kleiderbügel an der
Garderobe.
Allmen ging wieder ein paar Schritte vor und sah den
Bruder gerade noch im Mantel an der Haustür, bevor es dunkel wurde.
Die Tür fiel ins Schloss. Langsam gewöhnten sich Allmens
Augen an die plötzliche Dunkelheit. Jetzt sah er, dass in der Halle ein paar
bodennahe Notlichter glimmten und neben jeder zweiten Treppenstufe auch.
Ein Motor sprang an, wurde lauter, leiser, wieder laut und
entfernte sich.
Allmen fröstelte in T-Shirt und Boxershorts. Er ging ins
Schlafzimmer zurück und schlüpfte zu Joelle unter die Decke.
Er war jetzt hellwach.
Eine Stunde später war er immer noch wach. Der Sturm hatte
so abrupt geendet, wie er begonnen hatte. Joelle hatte sich noch nicht gerührt.
Und Allmen hatte den Kopf voller Libellen.
»Wenn du«, hatte Jack Tanner gesagt, »in deiner kleinen
Sammlung noch mehr solcher Libellen hast: Ich bin interessiert.«
Fünf waren dort gestanden, eine schöner als die andere.
Sie waren allein im Haus. Und Joelle schlief wie ein
Stock.
Das Haus war voller Gäste gewesen. Jeder von ihnen würde
in Frage kommen.
Außer ihm. Er würde das Haus vor Zeugen mit leeren Händen
verlassen. Wie gehabt.
Und am nächsten Abend an den Ort des Verbrechens
zurückkehren. Wie gehabt.
Zwanzigtausend.
Das würde das Problem Dörig lösen. An dem ja,
genaugenommen, Joelle schuld war.
Wer hätte das gedacht, dass zwanzigtausend eines Tages
ein Betrag sein würde für Johann Friedrich v. Allmen.
Leise stand er auf und zog sich an.
Im Raum hing der Geruch von kaltem Zigarrenrauch. Allmen
drückte sich am Möbel vor der Tür
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