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Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allmen und die Libellen
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war nach Büroschluss ein
Treffpunkt für Banker. Dort tauschten sie ihren After-Work-Klatsch aus,
schimpften auf ihre Bosse und schwärmten von ihren Kindern, die sie bei den
Müttern warten ließen.
    Gegen sieben Uhr wurden sie abgelöst vom Ladenpersonal
der umliegenden Geschäfte, auf welche dann die Hotelgäste folgten, die sich zum
Apero mit ihren Essensverabredungen trafen.
    Danach wurde es still in der Confi, wie sie bei den
Insidern hieß.
    Allmen saß beim zweiten Bier an der Theke. Nur noch ein
Barmann versah seinen Dienst. Er vertrieb sich die Zeit mit Gläserpolieren,
Bestecktrocknen und Tischeputzen. Nach Kino und Theaterschluss würden sich noch
einmal ein paar Gäste einfinden, nicht viele, die Bar lag für die Kino- und
Theatergänger nicht direkt auf dem Weg, aber es würde noch einmal ein wenig
Leben einkehren in die alte Confi.
    Allmen bestellte noch ein Bier. Er genoss das Gefühl, im
Hotel zu sein. Es lag ihm zwar etwas zu nahe bei seiner Wohnung, aber es war so
international, dass er sich irgendwo in der Welt wähnen konnte.
    Morgen würde er diesen sicheren Hafen verlassen. Zuerst
würde er sich im Viennois zeigen und sich umhören, was man so über Jack Tanner
berichtete. In den Zeitungen war heute noch nichts darüber zu finden gewesen.
    Danach würde er sich in die Höhle des Löwen begeben. Bei
dem Gedanken daran setzte jedes Mal kurz sein Herz aus. Aber zustoßen konnte
ihm nichts. Dafür hatte er mit Carlos gesorgt.
    Bevor die ersten Kinogänger eintrafen, signierte Allmen
seine Rechnung. Er wollte heute Nacht niemanden treffen, den er kannte. Und
von denen gab es um diese Zeit in dieser Stadt nicht wenige.
     
    Da war er wieder, dieser Hotelmoment, den er so liebte:
Aufwachen im Halbdunkel eines fremden Zimmers und nicht wissen, wo man ist. In
welcher Stadt, in welchem Land, auf welchem Kontinent.
    Beim Öffnen der Augen sind die Bilder des Raumes noch wie
die Fragmente eines Kaleidoskops, kurz bevor sie sich zu einem Bild
zusammenfinden und sich das Rätsel löst.
    Diesmal war die Lösung eine Enttäuschung: Er war in der
Stadt, in der er immer gewesen war in letzter Zeit. Und das Neue, Unbekannte,
das ihn erwartete, bereitete ihm mehr Angst als Freude.
    Um sich die Illusion der Ferne noch etwas zu erhalten,
bestellte er beim Zimmerservice einen Early Morning Tea, als wäre er in
England, Neuseeland oder Indien.
    Aber als es klopfte, wurde er vollends in die rauhe Wirklichkeit
zurückgeholt. Anstatt sich die dampfende Tasse ans Bett bringen zu lassen,
musste er aufstehen und durch die verschlossene Tür vorsichtig fragen: »Who is
it?«
    »Your tea«, antwortete eine Stimme mit einem
Akzent, der ihm die letzten Zweifel an seiner geographischen Lage nahm.
    Auf dem Tablett, das er auf den Tisch stellen ließ und
dann, sobald der Zimmerkellner gegangen war, selbst ans Bett trug, lag eine
Tageszeitung. Dort, im Lokalteil, fand er die Meldung über Tanner.
    Der bekannte Ladenbesitzer J. T. war am Vortag in seinem
Laden, einem traditionsreichen Kunst- und Antiquitätengeschäft, erschossen
aufgefunden worden. Die Polizei schloss Selbstmord aus.
    Es folgten ein paar Details. Eine Nachbarin hatte die
Polizei benachrichtigt, nachdem sie zu verschiedenen Zeiten des Vortages und
des Tages mehrere Kunden beobachtet hatte, die vergeblich an der Ladentür
klingelten, obwohl sie einen Termin hatten. Das sei noch nie vorgekommen. Wenn
Herr T. abwesend war, hing stets ein Schild in der Tür.
    Über Hintergründe und Motiv der Tat gab es noch keine
Anhaltspunkte. Weder ein Raubüberfall noch ein Beziehungsdelikt konnten
ausgeschlossen werden.
     
    »Buongiorno, Signor Conte«, sagte Gianfranco
und stellte den Milchkaffee und die beiden Croissants vor Allmen auf den Tisch.
»Haben Sie das vom povero Signor
Tanner gehört?«
    »Leider ja, Gianfranco.«
    »Bestiale! Tremendo! Wo ist man
noch sicher auf dieser Welt? Straziante!«
    Nach diesem - für Gianfrancos Verhältnisse - Wortschwall
entfernte er sich vom Tisch.
    Kurz darauf traf Tanners Stammtisch ein. Die drei Männer
unterhielten sich mit dem Ernst der Hinterbliebenen und der Euphorie der
Überlebenden.
    Allmen erhob sich, trat an den Tisch und drückte seine
Betroffenheit aus.
    Erschossen, erfuhr er. Von hinten. In den Kopf.
Exekutiert. Schalldämpfer. Sonst hätte es jemand gehört. Vierundzwanzig Stunden
nicht gefunden. Eben noch saß er auf diesem Stuhl. Wie wir. Keine sechzig.
    Allmen vernahm dies alles stehend. Der einzige freie Stuhl
war der

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