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Suter, Martin

Suter, Martin

Titel: Suter, Martin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allmen und die Libellen
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Telefons vermutlich schrill durch
die See-Villa hallte, klopfte der Zimmerkellner mit dem Imbiss. Allmen hielt
die Hand über die Muschel des veralteten Hoteltelefons und rief ihn herein.
    Er klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter, visierte
die Rechnung und steckte dem Kellner einen Schein zu. In der See-Villa ging
niemand ran, und das Läuten wurde vom Besetztzeichen abgelöst. Allmen legte
auf. Erst jetzt wurde ihm klar, wie leichtsinnig es gewesen war, den Kellner
einfach hereinzurufen. Wie konnte er wissen, dass es tatsächlich der Kellner
war? Und nicht der Mann, der ihn heute Nachmittag verfehlt hatte?
    Er verriegelte die Zimmertür und wählte die Nummer von
Klaus Hirts Handy.
    Sofort meldete sich eine belegte Männerstimme. »Ja?«
    »Allmen. Spreche ich mit Herrn Hirt?«
    »Wer will das wissen?«
    »Allmen. Johann Friedrich von Allmen. Ein Freund Ihrer
Tochter Joelle.«
    »Sie ist verreist.«
    »Ich weiß. New York. Ich habe eben mit ihr gesprochen. Sie
hat mir die Nummer gegeben.«
    »Das sollte sie nicht.«
    »Ich muss mit Ihnen sprechen.«
    »Soso, müssen Sie. Ich muss nicht. In meinem Alter ist es
vorbei mit dem Müssen.«
    »Es könnte aber interessant für Sie sein.«
    »Es gibt nur noch sehr wenige Dinge, die interessant für
mich sind.«
    »Gehören Galle-Schalen mit Libellen dazu?«
    Es blieb kurz still am anderen Ende. Dann hörte Allmen ein
Räuspern und danach die etwas klarer gewordene Stimme: »Auch nicht mehr so
sehr, wie Sie vielleicht annehmen.«
    »Aber genug, um mich zu empfangen?«
    »Morgen Nachmittag. Sagen wir drei Uhr? Bei mir zu Hause.
Sie kennen ja den Weg.«
    Allmen setzte sich an den Tisch, auf dem der Zimmerkellner
das Essen angerichtet hatte, trank einen Schluck Wein und begann, das
Clubsandwich zu bearbeiten. Er hatte nicht viel übrig für Clubsandwichs.
Bestellt hatte er es nur, weil ihn dieser internationale Room-Service-Klassiker
an sein früheres Leben erinnerte. Als er keine Sorgen kannte, vor allem keine
finanziellen. Als er Hotels bewohnte, als gehörten sie ihm. Als er sich
überall sicher und geborgen fühlte.
     
    Er setzte sich mit einem Buch und dem Rest des Bordeaux in
den Wintergarten. Ein paar Stockwerke unter ihm glitten die Trams vorbei, und
die vermummten Passanten auf dem Trottoir hatten es eilig, in die Wärme zu
kommen. Die erhellten Fensterreihen der Bürofassaden zeigten schon die ersten
dunklen Lücken, und der tiefhängende Nebel umgab die Leuchtschriftzüge, die
die Banken krönten, mit farbigen Auren.
    Allmen hatte es sich bequem gemacht, die Krawatte
abgelegt, das Jackett gegen einen Kaschmirpullover getauscht und die Schuhe
gegen die ledernen Reisepantoffeln, die er bei Hotelaufenthalten immer
dabeihatte. In den hoteleigenen Frotteepantoffeln käme er sich lächerlich vor.
    Wenn er eine Seite weiterblätterte, war seine Hand ruhig.
Aber das Zittern hatte sich in sein Inneres zurückgezogen. Und dort dauerte es
an, wie ein Erdbeben, dessen Epizentrum tief unter der Erde lag. Die Ruhe, die
sich seiner bemächtigt hatte, seit er sich entschlossen hatte zu kämpfen, war
nur oberflächlich. Wie so vieles in seinem Leben.
    Abrupt stand er auf, löschte das Licht im Wintergarten
und zog sich mit klopfendem Herzen in die Sitzgruppe des Salons zurück. Es war
ihm plötzlich aufgegangen, was für ein leichtes Ziel er für einen Schützen auf
irgendeinem der Hausdächer gegenüber abgeben würde.
    Er unterdrückte das Bedürfnis, mit einem Bier oder zwei
aus der Minibar gegen die innere Unruhe anzugehen. Sich ein Getränk aus der
Minibar zu holen hatte etwas Heimlichtuerisches. Wie Magenbitter aus der
Handtasche.
    Mit fünfzehn, zu Besuch bei seinen Eltern, hatte er sich
seinen ersten Rausch angetrunken. Sein Vater besaß einen Vorrat von
Hausschnäpsen, die er bei den Bauern zusammenkaufte und an andere Bauern und
Lokalpolitiker, mit denen er ins Geschäft kommen wollte, als Selbstgebrannte
verschenkte. Aus diesem Vorrat hatte sich Fritz eine Flasche besorgt, sie mit
ins Zimmer genommen und fast ein Viertel davon getrunken. Direkt aus der Flasche.
Aus Liebeskummer.
    Nachdem er sich von seinem Rausch und seinem entsetzlichen
Kater erholt hatte, sagte sein Vater: »Saufen darfst du. Aber nie allein.«
    Seither war das Trinken von Alkohol für Allmen ein
öffentlicher Akt. Und das war immer dann gewährleistet, wenn mindestens eine
zweite Person beteiligt war. Und sei es auch nur beim Einschenken.
    Er zog sich noch einmal um.
    Die Bar des Confederation

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