Svantevit: Radiks Geschichte - Historischer Roman (German Edition)
hätte nur der Mitteilung einer Art Geheimnis bedurft und schon wäre er in der Lage zu lesen und zu schreiben.
Womar hatte eine raue Lederhaut an der Wand stramm aufgehängt und diese diente als Tafel. Zum Schreiben benutzten die beiden Kreidestücken, die auf der ganzen Insel, besonders aber an der nordöstlichen Steilküste zu finden waren.
Zunächst war das Alphabet der lateinischen Buchstaben zu erlernen. Die Darstellung in großer und kleiner Schreibweise und die Aussprache beherrschte Radik bald sicher. Doch dies war erst der Anfang.
Da Womar eine Schrift der Ranen nicht bekannt war und Radik keine andere Sprache beherrschte, begannen sie, und dies war auch für Womar Neuland, Begriffe aus der Sprache der Ranen lautmalerisch in Schrift umzusetzen. Radik erwies sich als sehr gelehrig, lernte sofort aus Fehlern, fragte nach, wenn er etwas nicht verstand. Er scheute sich auch nicht, andere Meinungen als Womar zu vertreten, war aber stets durch vernünftige Argumente zur Einsicht zur bringen.
Als Radik viele bekannte Wörter schreiben konnte und er in der Lage war, selbständig auch längere Worte, die er noch nie gesehen hatte, in Schrift umzusetzen, ging Womar daran, Sätze zu bilden, wobei er das Niveau von Anfang an recht hoch hielt.
Da es Womar nicht nur darum ging, das bloße Niederschreiben zu lehren, etwa wie es die Diktat– oder Abschreiber benötigten, welche in Kanzleien oder Klöstern dieser Arbeit nachgingen, sondern Radik auch im schriftlichen Ausdruck geübt werden sollte, beschrieb er gerne kurze Sachverhalte oder Begebenheiten, zu denen Radik selbständig Sätze zu bilden hatte. Und Radik übertraf seine Erwartungen.
Oft war er mit sich selbst noch unzufrieden, wenn Womar schon wieder einmal voll des Lobes war, und knobelte so lange weiter, bis er durch das Verändern eines Wortes oder eine Umstellung im Satzbau eine noch verständlichere Variante des Textes hinbekam.
Nach einiger Zeit war Womar nicht bange, am Ende eines jeden Übungstages, die oft am späten Nachmittag begannen und bis zum Abend dauerten, mit Radik einige Wörter in deutscher Sprache zu üben. Er hatte anfangs überlegt, ob es nicht sinnvoller sei, dem Jungen zunächst die Grundlagen des Lateins beizubringen, gleichsam als Basis zum Erlernen von fremden Sprachen. Aber schließlich meinte er, dass Radik durch Erfolgserlebnisse bei den nicht immer leichten Lektionen ermutigt werden könnte, wenn er sich mit deutschen Kaufleuten würde verständigen können und so wäre auch der praktische Nutzen dieser Sprache ein größerer.
Radik hätte lieber dänisch gelernt, da er die Nachbarn im Norden als den Ranen ähnlicher empfand – ein Seefahrervolk wie sie, wenn auch ihre Feinde, was aber nicht Verachtung bedeutete. Doch Womar gab zu, dass seine Kenntnisse der dänischen Sprache selbst nur sehr dürftig waren. Als Radik nach der Sprache der Araber fragte, winkte Womar lachend ab.
"Solltest Du jemals die Sprache dieser Menschen beherrschen oder gar deren Schrift, so will ich meinerseits dein gelehriger Schüler sein."
Dies weckte Radiks Interesse umso mehr.
Nun war es nicht einfach, einem Ranenjungen, der unter Ranen lebte und ständig nur in seiner Muttersprache redete, die Sprache eines anderen Volkes so beizubringen, dass die Kenntnisse nicht nur oberflächlich blieben, sondern ständig gefestigt und vertieft wurden, ohne hierbei beim Lernenden Langeweile aufkommen zulassen. Und deshalb begann Womar, mit Radik deutsch zu sprechen, von der Begrüßung in seiner Hütte bis zur Verabschiedung. Dies wiederum bedeutete für Radik eine große Herausforderung, da er es nicht leiden konnte, wenn er etwas nicht verstand und es bald als Niederlage empfand, wenn er gegenüber Womar ins Ranische ausweichen musste. Was Radik nicht direkt in Deutsch ausdrücken konnte, umschrieb er und wenn er Womar nicht verstand, fragte er in deutscher Sprache nach und ließ es sich erklären.
Radik hatte bald nach Einbruch des Winters und dem Ende der Fischfangsaison von seinen Eltern die Erlaubnis erhalten, Womar regelmäßig zu besuchen, der von Vitt aus mit einem Pferd in kurzer Zeit zu erreichen war. Nach langem Drängen hatte sich Ugov bereit erklärt, ihm ein Pferd für den Weg zur Verfügung zu stellen, nicht ohne zuvor allerhand Mahnungen und Warnungen ausgesprochen zu haben. Doch nachdem Radik seinen unerschütterlichen Willen zum Ausdruck gebracht hatte, andernfalls zu Fuß aufzubrechen, konnte Ugov gar nicht anders, insbesondere
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