Sweetgrass - das Herz der Erde
Schmerz und unter der Last des Geheimnisses zu zerbersten. Aber dann dachte ich: ‘Was soll das helfen, wenn ich Adele jetzt von dem Baby erzähle?’ Tripp war tot. Ich hatte gerade erst davon erfahren und brauchte Zeit, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Ich hatte Angst, Adele würde wütend werden, weil ich so dumm gewesen war, oder würde das Andenken ihres Bruders durch einen Skandal in den Schmutz ziehen. Ich war mir sicher, dass es mir hinterher noch schlechter gehen würde. Adele zum Feind zu haben, ist schlimm. In dem Moment war ich einfach noch nicht in der Lage, mich mit ihr auseinanderzusetzen, und ich wusste, dass es letztlich zu nichts führen würde.
Die Schande musste ich ganz allein aushalten. Ich hatte es mir selbst eingebrockt. Wenn ich Adele erzählt hätte, dass ich schwanger war, und es bekannt geworden wäre, wäre die Schande auf Tripp und eure ganze Familie übergegangen. Ich dachte, dass es das Mindeste sei, euch wenigstens das zu ersparen.”
Preston drückte ihre Hand, und sein Trost gab ihr Kraft.
“Den Rest kennst du.” Mama June wischte sich eine Träne weg, die langsam über ihre Wange lief, und lächelte ihn an.
“Was passiert ist, ist passiert.”
Doch Mama June wusste, dass mit dieser Entscheidung, die vor so vielen Jahren und in bester Absicht getroffen worden war, ein feines Netz von Lügen und Schweigen gesponnen worden war, das mit der Zeit immer weiter gewachsen war und das Mary June Clark noch Jahre später gefangen hielt.
In dieser Nacht stand Mama June am Fenster ihres Schlafzimmers und schaute hinüber nach Blakely’s Bluff. Wolken waren aufgezogen, verdeckten den Mond und machten den Himmel schwarz wie Tinte.
Sie stand einfach da und starrte hinaus, bis ihr Körper schwer von Müdigkeit wurde und ihr die Augen fast zufielen. Zögernd ging sie zu Bett, machte die Lampe aus und zog das Laken und die dünne Sommerdecke über ihre Schultern. Sie waren angenehm kühl wie das Kissen. Als sie ihren Kopf ins Kissen sinken ließ, nahm sie den erfrischenden Geruch von Salbei wahr, den Kristina auf den Stoff geträufelt hatte, damit sie besser schlafen konnte.
Mama June lag auf den kühlen Laken in der Dunkelheit und schloss die Augen. Sie wusste, dass sie jetzt einschlafen würde. Ihre Reise näherte sich ihrem Ende, doch sie war noch lange nicht vorbei.
Mary June Clark fuhr zusammen mit Adele vom College nach Mount Pleasant zu Tripps Beerdigung. Es war so völlig anders als die erste Fahrt, die sie im Mai zusammen unternommen hatten. Damals hatte links und rechts der Straßen das frische Frühjahrsgrün so viel versprechend ausgesehen. Jetzt trug die Erde die düsteren Farben der Trauer – ocker, dunkelrot und braun waren die trockenen Blätter, die am Straßenrand lagen. Die Frauen sprachen kaum. Die Musik aus dem Radio war wohltuend, weil sie beide ihren eigenen Gedanken nachhängen konnten. Die Fahrt ans Meer war der erste Schritt zu ihrer allmählichen Entfremdung, auch wenn ihnen das damals nicht bewusst gewesen war.
Wie Schuld und Anklage saßen sie ruhig und still nebeneinander, jede für sich durch Treue gebunden. Doch diese Treue, die sie beide für denselben Menschen empfanden und die sie einander hätte näherbringen sollen, trennte sie voneinander – ähnlich wie der gelbe Mittelstreifen auf der Straße, die sie nach Hause führte.
Die kleine Steinkirche platzte vor Trauergästen aus allen Nähten, sodass viele von ihnen nur noch auf dem grünen Rasen vor Christ Church Platz fanden. Tragödien wie diese, die eine so beliebte und respektierte Familie wie die Blakelys heimsuchte, betrafen die ganze Gemeinde. Wenn noch dazu das Opfer so jung und besonders war wie Hamlin Blakely III, bahnte sich die unendliche Trauer ihren Weg.
Der Stammbaum der Familie Blakely ließ sich bis in die Frühzeit von Charleston zurückverfolgen, und an diesem Tag kamen auch die entferntesten Teile der Familie zusammen, um den Verlust des Lieblingssohnes zu betrauern. Den Trauergottesdienst hielten mehrere Priester, von denen einer zur Familie gehörte. Und sogar der Bischof selbst war gekommen.
Mary June hielt sich im Hintergrund, wie es dem Anlass und ihrer Position entsprach. Sie war weder Tripps Witwe noch seine Verlobte. Außerhalb des engsten Familienkreises wusste nicht einmal jemand von ihrer stürmischen Affäre mit Tripp. Und das ist auch besser so, dachte sie, als sie ganz hinten in der Kirche zwischen Fremden saß, von denen eine Frau den ganzen
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