Sweetgrass - das Herz der Erde
so geliebt hatte. Unter einem Fenster stand sein alter Schultisch aus Kiefernholz mitsamt Stuhl, das weiche helle Holz völlig zerkratzt. Und an seinem hohen Sekretär fehlten immer noch zwei Schubladen. Sie hatte nur eines verändert: Die kunterbunte Sammlung von Schnapsflaschen fehlte ebenso wie seine alten Poster längst vergessener Rockstars.
“Ich komme mir vor wie in alte Zeiten zurückversetzt”, murmelte er.
Ich wünschte, es wäre so, dachte sie, sagte aber nichts, während sie im Zimmer umherging, geistesabwesend einen Stuhl zurechtrückte und die Bettdecke gerade zog.
“Es ist alles noch ziemlich genau so wie an dem Tag, als du weggegangen bist. Wir wussten doch, dass du zurückkommst, früher oder später. Ich werde hier heute Nachmittag ein bisschen saubermachen.”
“Es sieht besser aus als bei mir.”
Er setzte seine Tasche ab, streckte sich ausgiebig und gähnte dabei so laut wie ein Bär, der aus dem Winterschlaf erwacht. Sein jungenhaftes Benehmen überraschte sie und erinnerte sie an jene Zeit, als der kleine Morgan mit Vorliebe herzhaft gegähnt oder lautstark gerülpst hatte, vor allem, um sie damit zu schockieren. Beim Gedanken daran musste sie ein bisschen lächeln.
“Du weißt ja noch, wo alles ist”, sagte sie und wusste nichts mit ihren Händen anzufangen, die sie am liebsten ausgestreckt hätte, um ihn zu berühren. Ihr Herz war in Aufruhr allein durch seinen bloßen Anblick – ihr Sohn hier, in seinem alten Zimmer! Aber sie wagte es nicht. Vielleicht hätte sie ihn mit einer gefühlsduseligen Geste verschreckt. Schon als Kind hatte er auf ihre Umarmungen abweisend reagiert und war ihren Küssen ausgewichen. Heute war die unsichtbare Mauer, die er um sich herum errichtet hatte, geradezu greifbar.
“Im Bad sollten frische Handtücher und Seife sein. Ich gehe noch mal nachsehen. Wir hatten so lange keinen Logiergast mehr.” Als sie merkte, dass sie ihren Sohn gerade in die Kategorie Gast eingeteilt hatte, fügte sie leise hinzu: “Aber du bist ja auch kein Gast, natürlich! Also”, sie wusste noch immer nicht, wohin mit den Händen, und faltete sie vor dem Bauch, “sag einfach Bescheid, wenn du noch irgendetwas brauchst.”
“Klar. Alles bestens, danke”, antwortete er und fuhr sich mit den Händen müde durchs Gesicht.
“Nimm dir ein bisschen Zeit und ruh dich aus, hörst du? Du siehst ziemlich erschöpft aus.”
“Vielleicht sollte ich das. Es war eine lange Fahrt.”
“Nun …” Sie suchte wieder nach Worten. “Ich kümmere mich am besten ums Frühstück.”
Als er nur nickte, ging sie hinaus und schloss die Tür leise hinter sich.
Draußen blieb sie einen Moment stehen und versuchte sich zu sammeln. Träumte sie womöglich? War Morgan wirklich gekommen? Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Es war bereits acht Uhr, und sie war noch immer im Nachthemd! Es war höchste Zeit, sich anzuziehen, dachte sie und lief schnell in ihr eigenes Zimmer am anderen Ende des Flurs.
Routiniert zog sie sich an: den üblichen khakifarbenen Rock, eine frische Baumwollbluse und bequeme Schuhe. Geschickt band sie ihren Zopf zu einem Knoten und steckte ihn mit ein paar Haarklemmen fest. Dann wusch sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser und schminkte sich die Lippen. Sie war weder eine eitle Frau noch sonderlich interessiert an Mode. Ihre Alltagskleidung war bequem, und für besondere Anlässe verließ sie sich auf klassische Qualitätsware im zeitlosen Stil. Auch wenn die Jahre nicht spurlos an ihr vorübergegangen waren, hatte sich ihre Kleidergröße kaum geändert, und einige Sachen in ihrem Schrank stammten noch aus den ersten Jahren ihrer Ehe, als sie häufiger ausgegangen waren. Es amüsierte sie jedes Mal, wenn ihre altmodischen Kleider wieder in Mode kamen.
Nach einem kurzen Blick in den Spiegel fühlte sie sich schon sehr viel besser und gewappnet für den kommenden Tag. Sie legte ihre Freude wie ein Schultertuch um sich und machte sich an die unzähligen Aufgaben, die sie für heute im Kopf hatte.
Etwas später stand Mama June am Herd, rührte mit einer Hand in der Maisgrütze und machte mit der anderen eine Liste von all den Dingen, die sie heute zu erledigen hatte. Ganz oben auf der Liste stand, Morgans Rückkehr bei der Familie bekannt zu machen und alle für Sonntag zum Essen einzuladen. Das Sonntagsessen war seit Generationen eine Familientradition, die aber wie so vieles vernachlässigt worden war – weil ständig andere Verpflichtungen dazwischenkamen oder weil
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