Sweetgrass - das Herz der Erde
hingehen.”
Sie tätschelte ihm liebevoll die Hand. “Danke. Es wird ihm so viel bedeuten.”
“Wann wird Daddy denn wieder aus dem Krankenhaus entlassen?”
“Das ist noch nicht entschieden.” Sie zog ihre Hand zurück und ließ sich in ihrem Stuhl zurücksinken. Ihr Blick glitt über den Küchenschrank, und sie betrachtete die aufgeschlagenen Kochbücher und die Einkaufsliste – lauter Vorbereitungen für das Sonntagsessen. Bei aller Freude über Morgans Rückkehr wusste sie, dass es wieder eine hitzige Diskussion geben würde, sobald die Familie zusammenkam.
“Was ist los, Mama June?”
Sie blickte in sein nachdenkliches Gesicht und sah plötzlich wieder den kleinen Jungen vor sich, wie er an diesem Tisch neben ihr saß und gierig seine Cornflakes hinunterschlang. Sie sah, wie er ungeduldig mit den Beinen wippte und die Augen aufs Fenster gerichtet hatte, weil er schon auf dem Sprung nach draußen war. Er war ein sensibles Kind gewesen. Und trotzdem hatte sie mit ihm nie über Dinge gesprochen, die sie plagten, im Unterschied zu ihrer Tochter Nan, mit der sie immer offen geredet hatte.
“Ich bin so verwirrt”, begann sie mit plötzlicher Aufrichtigkeit. “Ich weiß nicht, was ich machen soll.”
Er setzte sich auf, dankbar für ihr Vertrauen.
“Bist du unsicher, wie du ihn pflegen musst? Die Leute im Krankenhaus werden dir schon zeigen, was du machen musst. Und du kannst dir Hilfe holen, wenn er wieder nach Hause kommt.”
“Genau darum geht es. Deine Tante Adele meint, ich soll ihn
nicht
zurück nach Hause bringen.”
“Oh.” Er machte eine Pause, und sein Blick verdüsterte sich. “Wirklich?”
Zwischen Prestons Schwester Adele und Morgan hatte es seit jeher Spannungen gegeben. Sein Tonfall sagte ihr, dass sich das in den letzten Jahren nicht geändert hatte.
“Adele befürchtet, dass er zu Hause die Pflege, die er braucht, nicht bekommen wird. Sie glaubt, dass wir seine Genesung aufs Spiel setzen, wenn wir ihn nicht dahin bringen, wo er professionelle Betreuung bekommt.”
“In ein Pflegeheim?”, fragte er erschrocken.
“Eher in ein professionelles Altersheim. Die Pflege zu Hause wäre sehr teuer und …” Sie machte eine hilflose Handbewegung. “Wenn sie es mir erklärt, klingt alles so vernünftig. Sie hat ihre Hausaufgaben gemacht und ist die Zahlen mit mir durchgegangen. Ich habe nicht mal die Hälfte davon behalten – außer dass ich Sweetgrass verkaufen soll.”
“Sweetgrass verkaufen …” Morgan atmete langsam aus und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. “Wow. Ich würde … ich meine, ich hätte nie gedacht, dass das mal in Betracht kommen könnte.”
“Adele sagt, mit dem Verkauf von Sweetgrass hätte ich genug Geld für Preston und mich, ohne befürchten zu müssen, jemandem zur Last zu fallen.” Sie starrte auf ihre Hände und ließ das Goldarmband an ihrem linken Arm durch ihre Finger gleiten. “Das haben wir nie gewollt, weißt du. Eine Last sein.”
“Ihr seid keine Last.”
“Nein, noch nicht. Aber laut Adele könnten wir das werden. Recht schnell sogar.”
“Adele spricht immer nur von Extremen, das weißt du doch.” Unruhig rieb er sich das Kinn. “Wenn der Schlaganfall Daddy nicht umgebracht hat, dann wird der Verkauf von Sweetgrass das ganz sicher tun.”
“Genau das denke ich doch auch!”, rief sie. Es war eine solche Wohltat, dass endlich jemand ihren Standpunkt verstand. Und dass dieser Jemand ihr Sohn war.
“Was sagen die Ärzte? Kann Daddy überhaupt entlassen werden?”
“Sie finden, dass er nach Hause kann, sofern wir Hilfe bekommen natürlich – also eine Art Armee von Therapeuten und Pflegern mitsamt der dazugehörigen Ausrüstung.” Sie hörte die Hoffnung in ihrer eigenen Stimme.
“Hilfe anheuern wird Geld kosten.”
“Richtig.”
“Und könnt ihr euch das leisten?”
“Für eine Weile. Wahrscheinlich eine sehr kurze Weile.” Mama June seufzte schwer. “Ich weiß gar nicht, warum ich mich mit dieser Entscheidung so schwer tue. Für Adele ist klar, was ich tun sollte: Sweetgrass verkaufen und wegziehen. Hank und Nan sind einverstanden.”
Morgan dachte einen Moment lang nach und fragte: “Und was willst
du
tun?”
“Ich muss überlegen, was für Preston das Beste ist.”
“Danach habe ich nicht gefragt. Ich wollte wissen, was
du
tun willst.”
Sie lehnte sich wieder in ihrem Stuhl zurück. In diesem Augenblick fiel ihr auf, dass in all den Unterhaltungen – mit Adele, Nan und Hank, mit den Ärzten, mit
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