Sweetgrass - das Herz der Erde
leise und streichelte seinen schwarzgrauen Kopf, den er gegen ihr Bein drückte. Seine Schnauze war inzwischen fast vollständig grau geworden, bemerkte sie und spürte Bedauern.
Der Hund wich nicht von ihrer Seite, als sie als Erstes zu ihrem Vater ging. Preston schien eine frischere Gesichtsfarbe zu haben, und sie freute sich, ihn in seinem Rollstuhl am Fenster sitzen zu sehen. Er hatte während seiner Krankheit so viel Gewicht verloren, dass sie in diesem zerbrechlich wirkenden Mann nur mit Mühe ihren kräftigen, agilen Vater wiedererkannte, mit dem sie aufgewachsen war. Doch seine blauen Augen begannen zu leuchten, als er sie hereinkommen sah, und er streckte ihr ungelenk die linke Hand entgegen.
“Na, mein Hübscher?”, sagte sie und beugte sich vor, um ihm einen geräuschvollen Kuss auf die Wange zu geben. “Du siehst aber gut aus heute! Und dein Hemd ist ja sogar gebügelt! Mama June hat dich für das Sonntagsessen wirklich fein gemacht!”
Sie schnupperte. “Irgendetwas riecht richtig gut hier. Die beiden kochen wohl für eine ganze Armee! Na, ich könnte einen kompletten Hirsch verspeisen, so hungrig bin ich. Rate mal, was ich mitgebracht habe!” Ihre Augen glitzerten verräterisch, als sie ein Päckchen hervorzog, das in braunes Wachspapier eingewickelt war. “Krabben – direkt vom Kutter. Ich habe extra deswegen in Shem Creek angehalten. Und Vidalia-Zwiebeln! Die magst du doch so gern! Und im Auto habe ich noch mehr leckere Sachen. Ich bring sie schnell in die Küche und bin gleich wieder da, okay?”
Ihre Laune besserte sich. Es tat so gut, einfach nach Hause zu kommen und ihren Vater ohne Hemmungen zu umarmen. Die vergangenen Wochen, in denen sie ihrem Vater bei den ganz alltäglichen Dingen geholfen hatte – essen, anziehen, kommunizieren –, hatte ihre Rollenverteilung von Vater und Kind umgekehrt. Was sie zuerst verunsichert hatte, hatte sie nach und nach seine Dankbarkeit spüren lassen. Und seine Liebe. Ein Klaps seiner Hand, ein waches Flackern in seinen Augen, wenn sie ins Zimmer kam – diese kleinen Gesten hatten, viel mehr als große es gekonnt hätten, die alten Wunden geheilt und das Band zwischen Vater und Tochter repariert.
Sie trug einen Karton auf den Armen, der bis obenhin mit frischen Erdbeeren gefüllt war, die sie bei dem fliegenden Händler an der Straße gekauft hatte. Als sie an Prestons Zimmer vorbei in die Küche lief, hoffte sie, dass er in der Lage sein würde, das Essen zu genießen. Er hatte in letzter Zeit Probleme mit dem Schlucken.
“Schaut mal, was ich mitgebracht habe”, rief sie, als sie die Küche betrat – an der Tür blieb sie wie angewurzelt stehen.
Dutzende leerer Erdbeerkartons standen herum, und die Küche roch überwältigend nach den süßen Früchten. Nona und Mama June hatten sich Schürzen umgebunden, standen vor dem Herd und rührten in großen Töpfen. Gleichzeitig blickten sie auf, als Nan hereinkam.
“Ach, herrje. Da hab ich wohl Eulen nach Athen getragen, wie?”, meinte Nan und hob lachend ihre Erdbeeren hoch.
“Davon kann man nie genug haben”, entgegnete Mama June schmunzelnd. “Je mehr, desto leckerer. Bring sie zur Spüle, dann können wir sie gleich waschen.”
“Allmählich machen wir Fortschritte”, fügte Nona hinzu. “Wir sind schon seit Tagen mit den Erdbeeren beschäftigt. Nun sind sie fast fertig. Aber wir können deine frischen Beeren für die Eiskrem verwenden.”
“Vergiss nur nicht, heute Abend etwas von der Marmelade mit nach Hause zu nehmen”, sagte Mama June.
“Ganz bestimmt nicht.”
“Ich hoffe, du hast an die Krabben gedacht.”
“Welche Krabben?”, fragte Nan unschuldig und machte ein verständnisloses Gesicht.
Mama June schreckte zusammen und sah sie durchdringend an. “Jetzt sag nicht, du …”
Doch Nan lachte und hielt triumphierend das Paket hoch.
“Na hör mal!”, rief Mama June entrüstet, und ihre Wangen wurden rosig, als sie herzhaft lachte. “Du bist ja noch schlimmer als deine Jungen!”
Nan genoss diese kleinen Scherze. Sie trug die Erdbeeren und die Krabben zur Spüle und suchte nach einem Plätzchen. Der Tisch stand voller Gläser mit dampfender Marmelade. Ab und an war das Geräusch eines Deckels zu hören, der fest verschlossen wurde. Dieser Klang und der Anblick von Mama June und Nona in ihren Schürzen erinnerte Nan an ihre Kindheit, als sie sich am liebsten in der Küche aufgehalten hatte. Still wie ein Mäuschen hatte sie am Tisch gesessen und dem Geräusch der
Weitere Kostenlose Bücher