Sweetgrass - das Herz der Erde
Ganz im Unterschied zu ihrem Bruder, der eine undurchdringliche Miene aufsetzen konnte. Nan dagegen war Mama June sehr ähnlich, denn sie konnte weder Schmerz noch Freude für sich behalten. Ihre Spontaneität war eine von Nans herausragenden Eigenschaften. Es machte sie zu einer wunderbaren Gastgeberin, einer aufmerksamen Freundin und einem engagierten hilfsbereiten Menschen. Aber sie konnte weiß Gott auch ausgesprochen dickköpfig sein. Was für Auseinandersetzungen hatten sie gehabt, vor allem als Nan ein Teenager gewesen war! Das muss sie von ihrem Vater haben, dachte Mama June.
Sie lehnte sich in ihrem Schaukelstuhl zurück. “Natürlich ist es deine Angelegenheit”, entgegnete sie. Sie versuchte es auf einem anderen Weg. “Wann kommen denn die Jungen?”
“Sie kommen nicht.”
“Nein? Das ist aber schade. Und Hank auch nicht?”
“Er hat keine Zeit. Ich bin heute alleine.”
“Sind sie krank?”
Nan runzelte verärgert die Stirn. “Ich habe den Jungen gesagt, sie sollen zu Hause bleiben.”
Mama June hörte auf zu schaukeln und blickte Nan fragend an.
“Mama, ich hab ihr ständiges Gejammere um das Sonntagsessen einfach satt. Sie jammern und heulen, bis ich es nicht mehr mit anhören kann. Ich habe sie zum Respekt vor Älteren erzogen, auch wenn es zurzeit nicht leicht ist mit Daddy. Aber im Leben ist nun mal nicht immer alles nur toll, das müssen sie irgendwann lernen.” Sie sah plötzlich sehr traurig aus. “Ich … Ich habe ihnen gesagt, wie enttäuscht ich von ihnen bin. Um genau zu sein, habe ich ihnen gesagt, dass sie nur mitkommen sollen, wenn sie wirklich wollen. Sie sind zu alt, um gezwungen zu werden, und ich bin es leid, ihnen damit auf die Nerven zu gehen. Sie sind so, wie sie sind. Und es ist ihre eigene Entscheidung.” Sie seufzte und schüttelte resigniert den Kopf. “Ich glaube, wir müssen nicht für sie mitdecken.”
“Ach komm, sie sind nun mal Teenager”, meinte Morgan zu ihrer Verteidigung. “Da hat nun mal nicht das Gehirn die Oberhand. Für sie ist es das Allerletzte, Sonntag für Sonntag mit einem Haufen alter Leute herumzusitzen. Glaub mir, die haben Besseres zu tun.”
“Darum geht es nicht”, versetzte Nan. “Sie haben überhaupt keinen Respekt vor der Familie, vor ihren Großeltern, vor der Tradition – und definitiv nicht vor mir. Du hättest mal hören sollen, wie sie mit mir geredet haben! Ich hätte mich nie getraut, so mit dir oder Daddy zu sprechen. Ich weiß nicht, was ich falsch gemacht habe.”
“Wo ist denn ihr Vater?”, fragte Mama June verärgert. “Er sollte vielleicht mal ein bisschen härter durchgreifen bei den beiden.”
“Ach, Hank …”, murmelte Nan und schüttelte abermals den Kopf. “Er ist ein Workaholic, und wenn er mal da ist, verwöhnt er sie, um wiedergutzumachen, dass er so oft weg ist. Er kauft ihnen alles, was sie haben wollen – ein Auto, ein Boot, eine neue Spielkonsole. Er ist der Bilderbuchvater. Der Kumpel. Und ich habe die miese Rolle abbekommen. Ich muss Tag für Tag mit ihnen zurechtkommen. Ich versuche, sie im Zaum zu halten, und Hank erzählt mir, ich soll sie einfach machen lassen. Und er verdreht vor ihnen die Augen, wenn ich versuche, ihnen etwas zu sagen, auf sie einzuwirken, sie zu erziehen. Das finden die Jungs natürlich klasse.”
“Und am Ende gibst du nach”, schloss Morgan.
Nans Augen weiteten sich, als sie ihn anstarrte.
Morgan hatte es nicht vorwurfsvoll gesagt. Mama June fand, dass es die Angelegenheit auf den Punkt brachte.
“Es sind nun mal drei gegen eine”, verteidigte sich Nan.
Morgan zuckte wieder mit den Schultern und hob hilflos die Hände.
Eine Pause entstand, in der Nan ihre Hände anstarrte. Eine Träne lief über ihre Wange, und sie nickte. “Ja, ich gebe nach”, sagte sie schließlich leise.
Mama June griff in die Tasche ihrer Schürze, holte ein Taschentuch heraus und gab es Nan. Sie trocknete sich die Augen und schniefte.
Morgan stellte die Eismaschine beiseite, beugte sich vor und legte die Ellbogen auf seine Knie. “Hör mal, Nan. Du bist eine wunderbare Mutter, und das meine ich so. Harry und Chas sind gute Jungs. Sie machen keinen Ärger, sie nehmen keine Drogen, und sie sind gut in der Schule.” Er musste ein bisschen grinsen. “Und sie haben Tischmanieren. Ich hab es selbst gesehen.”
Nan schniefte und lachte, dankbar für das indirekte Kompliment.
“Das gibt ihnen noch lange nicht das Recht, unhöflich zu sein”, entgegnete Mama June.
“Das ist
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