Sweetgrass - das Herz der Erde
lebhaft gewesen. Der geborene Geschichtenerzähler, immer mit einem Witz auf der Zunge oder einer bissigen Bemerkung im Kopf. Aber alles hatte sich verändert, seitdem er nicht mehr war. Sie trauerte noch immer um ihn.
Als Nan geheiratet hatte, wollte sie diese Lebhaftigkeit in ihrer eigenen Familie wiederbeleben, die ihr nach dem tragischen Tod ihres Bruders, der die Familie auseinandergerissen hatte, verloren gegangen war. Wenigstens hielt sie die Familientradition des gemeinsamen Essens aufrecht.
Da fiel ihr plötzlich etwas ein.
“Ach ja! Mama June hat uns alle für Sonntag zum Essen eingeladen.”
Die Ankündigung stieß bei den Jungen auf verdrehte Augen und Stöhnen.
“Hört sofort auf damit, ja? Ihr habt eure Großmutter so lange nicht gesehen, da ist das ja wohl das Mindeste. Habt ihr euch überhaupt mal überlegt, wie einsam sie sein muss, jetzt wo Großvater im Krankenhaus liegt? Ihr zwei seid ihr Ein und Alles, und es ist eine Schande, dass ihr sie so selten besucht. Ich sollte euch das Auto nicht mehr so oft geben.” Das war eine schwache Drohung, und alle wussten das. Trotzdem sah sie sich verpflichtet, wenigstens etwas Autorität auszuüben. “Ihr kommt mit zum Essen am Sonntag. Basta.”
“Ja, Ma’am”, murmelten sie und sahen ihren Vater Hilfe suchend an.
Hank putzte mit der Serviette seine Brillengläser, was meistens eine kleine Ansprache vorbereitete, wie sie wusste. “Dass Morgan hier ist, wird die Dinge nur noch komplizierter machen.”
“Wieso? Er ist wegen Daddy gekommen. Ich glaube nicht, dass er lange bleiben wird.”
“Wenn er der Alte ist, sicher nicht. Aber du weißt, dass deine Mutter sich noch immer nicht damit abgefunden hat, Sweetgrass aufzugeben, egal wie sehr wir uns bemüht haben.”
“Ich glaube nicht, dass sein Aufenthalt daran viel ändern wird. Es geht in erster Linie um Zuwendung. Mama June braucht gerade jetzt die Unterstützung der Familie. Ich wünschte, er würde sich ein bisschen darum kümmern.”
“Bist du dir da so sicher? Wir haben das Testament bisher nicht gesehen, und er ist immerhin der einzige Nachkomme der Blakelys.”
Nan drehte ihr Weinglas und antwortete trocken: “Als ich das letzte Mal in den Spiegel geschaut habe, war ich noch am Leben und eine Blakely.”
“Du weißt, was ich meine”, erwiderte er.
Sie hob den Kopf und nahm einen Schluck. “Ich fürchte, ja.”
“Du bist keine Blakely mehr”, sagte Chas und sah sie besitzergreifend an. “Du bist eine Leland.”
Hank grinste schief und blickte seine Frau mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Nan schaute der Reihe nach in die drei Augenpaare am Tisch, die auf sie gerichtet waren. Der Besitzanspruch in ihrem Blick berührte sie merkwürdig wohltuend. Sie dachte daran, dass ihr Vater ihr einmal dieselben Worte gesagt hatte. Prestons braungebranntes zerfurchtes Gesicht, wie immer nachdenklich, war hart gewesen und seine Augen wie blaue Eistropfen. Bei dem Gedanken daran durchfuhr es sie. An jenem Tag hatte sie ihrem Vater mitgeteilt, dass sie dem Wunsch ihres frischgebackenen Ehemanns folgen und die paar Dutzend Hektar Küstenland verkaufen würde, aus denen ihre Mitgift bestand. Hank hatte ein Geschäft mit einer örtlichen Entwicklungsfirma gemacht, die ihm damals zum Einstieg in seine Karriere als Immobilienmakler verhalf.
Sie war eine junge Braut gewesen und hatte sich so verhalten, wie man es ihr beigebracht hatte.
Eine Frau gehört an die Seite ihres Mannes
. Als Ehefrau war sie diejenige, die nachgab, die Friedensstifterin, die rechte Hand ihres Mannes. Sie hatte getan, was die Sitten – die Bibel – verlangten.
Der Verkauf war sie teuer zu stehen gekommen. Nach Ansicht ihres Vaters hatte der Verkauf von Familienbesitz ihre Bindung an die Familie durchtrennt. In seiner simplen Einteilung der Welt war das Wir zum Ihr geworden. Das Ganze blieb unausgesprochen, er hatte ihr deswegen nie offene Vorwürfe gemacht. Er hatte seine Enttäuschung für sich behalten, aber unter der kühlen Oberfläche hatte es gebrodelt. Sie hatte die Trennung anders zu spüren bekommen, ganz allmählich nur, denn ihre Beziehung war nicht über Nacht abgekühlt, sondern im Laufe von Monaten und Jahren. Nan fand immer noch, dass sie ungerecht behandelt wurde. Und sie war verletzt, tief verletzt.
“Natürlich bin ich eine Leland”, antwortete sie auf Harrys Behauptung. “Aber du hast auch Blakely-Blut in deinen Adern, vergiss das nicht.”
“Gefahr erkannt, Gefahr gebannt”, witzelte ihr
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